Analyse der MGH-Studie zu sexuellem Missbrauch: Wie das Bistum die Spitze des Eisbergs schönt
By Robert Werner
Regensburg Digital
October 13, 2018
https://www.regensburg-digital.de/wie-das-bistum-die-spitze-des-eisbergs-schoent/13102018/
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Fixierung auf Prävention als Alibi?: Bischof Voderholzer. |
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Bistumssprecher Clemens Neck: Informationen nur für ausgewählte Presseleute. |
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Die Hauptverantwortlichen für Verschleppung und Vertuschung: Generalvikar Michael Fuchs und der ehemalige Bischof G.L. Müller. |
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Geistlicher Missbrauchstäter über Jahrzehnte: Der ehemalige Domspatzen-Direktor Georg Zimmermann. |
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Die nach dem Missbrauchstäter Zimmermann benannte Straße von Eslarn, wo das Bistum nach seinen Opfern ermittelte. |
[Analysis of the MGH study on sexual abuse: How the bishopric beautifies the tip of the iceberg]
Mit der sogenannten MHG-Studie sollte auf breiter Basis der sexuelle Missbrauch von Minderjährigen durch Kleriker und Diakone in katholischen Diözesen sozialwissenschaftlich untersucht werden. Die Diözese Regensburg tut sich wieder einmal damit hervor, entsprechende Zahlen zu verbergen oder kleinzureden. Einer der Hauptverantwortlichen für die jahrelange Verschleppung von Aufklärung – Kardinal Gerhard L. Müller – flankiert das Ganze mit einem homophoben Erklärungsmuster.
Über vier Jahre lang haben Forscher und Forscherinnen an einer sozialwissenschaftlichen Studie zu sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch katholische Kleriker und Diakone gearbeitet. Bei der Präsentation der Ergebnisse zeigten sich die Auftraggeber, die Diözesanbischofe Deutschlands, betroffen und entsetzt. Wieder einmal. Die Forscher der MHG-Studie resümierten ihr quantitatives Untersuchungsergebnis mit einem geläufigen wie beunruhigenden Bild: Die ermittelten Zahlen und Quoten für den sexuellen Missbrauch durch Geistliche und Diakone seien „die Spitze des Eisbergs, dessen tatsächliche Größe unbekannt ist.“ Da es sich beim Missbrauch Minderjähriger durch Kleriker „nicht nur um das Fehlverhalten Einzelner“ handle, sondern die „für die katholische Kirche spezifischen Strukturmerkmale weiter bestehen“, existiere auch „das Risiko sexuellen Missbrauchs von Kindern und Jugendlichen innerhalb der Strukturen der katholischen Kirche“ fort.
Eine weitere Kernaussage der Studie betrifft ein Diözesen übergreifendes Fehlverhalten: Wenn sexuelle Übergriffe in den bischöflichen Ordinarien bekannt geworden sind, seien die Reaktionen der Verantwortlichen in den Bistümern oftmals „inadäquat“ gewesen, „der Schutz von Institution und Beschuldigten“ habe „Vorrang vor den Interessen der Betroffenen“ gehabt. Die unverändert bestehenden problematischen Strukturen würden indes auch eine wirksame Prävention von Missbrauch erschweren. Die eigentliche Aufarbeitung der ganzen Problematik stehe der Kirche noch bevor, so die Studie, Missbrauchsbetroffene müssten zukünftig einbezogen werden.
I. Ziele und Methoden der Studie
Die MHG-Studie wurde im Juni 2014 von den 27 katholischen Diözesen sowie dem Verband der Diözesen Deutschlands (VDD) in Auftrag gegeben. Durchgeführt wurde sie von einem interdisziplinären Forschungsverbund. Die daran beteiligten Institute sind in Mannheim, Heidelberg und Gießen angesiedelt, deshalb das Kürzel der Studie: „MHG“. Die eigentliche Laufzeit bis Ende 2017 wurde wegen Verzögerungen, die in einzelnen Diözesen bei der Abgabe der Daten auftraten, bis September dieses Jahres verlängert. Nur gut eine Million Euro musste der Diözesenverband für die Studie berappen.
Das Ziel der in sieben Teilprojekte untergliederten Studie war es, „den sexuellen Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Verantwortungsbereich der Deutschen Bischofskonferenz“ von 1946 bis 2014 zu erfassen und sozialwissenschaftlich auszuwerten. Insbesondere sollte eine „zahlenmäßige Abschätzung der Häufigkeit der sexuellen Missbrauch“ erarbeitet, Merkmale der Missbrauchstaten sowie der Beschuldigten- und Betroffenengruppen beschrieben, und „Strukturen innerhalb der katholischen Kirche, die das Geschehen möglicherweise begünstigen“ analysiert werden. Die Übergriffe von Täterinnen generell und solche von männlichen Ordensangehörigen, die nicht im Auftrag der Diözesen arbeiten, wurden überhaupt nicht erfasst.
In eigenständig erarbeiteten Teilstudien wurden Interviews mit Betroffenen sowie beschuldigten und nicht beschuldigten Klerikern geführt, Strafakten bei Behörden und in Archiven erforscht, Präventionskonzepte und Fachliteratur analysiert und via Internet Betroffenen anonymisiert befragt.
Wie wurde die Anzahl der Beschuldigten und Betroffenen ermittelt?
Alle 27 Diözesen übermittelten in anonymisierter Form jene Beschuldigten, die anhand von Hand- und Fallakten aus diözesanen Voruntersuchungen, den Geheimarchiven und den Anträgen auf „Leistungen in Anerkennung des Leids“ aus sexuellem Missbrauch in den diözesanen Verwaltungen bekannt waren. Darüber hinaus wurden in zehn durch Zufallsprinzip ausgewählten (Erz-)Bistümern (Bamberg, Berlin, Essen, Freiburg, Hamburg, Magdeburg, Paderborn, Speyer, Trier und München-Freising) die Personalakten aller Kleriker (1946 – 2014) auf Hinweise zu sexualisierter Gewalt untersucht. Für die restlichen siebzehn Diözesen, darunter Regensburg, wurden nur die „Personalakten von im Jahr 2000 noch lebenden sowie evtl. später geweihten oder dem Verantwortungsbereich der Diözesen unterstellten Priestern, Diakonen und männlichen Ordensangehörigen im Gestellungsauftrag hinsichtlich sexueller Missbrauchsvorwürfe durchgesehen“.
Aus den so ausgewerteten Personalakten aller Diözesen (insgesamt 38.156) ergab sich die Summe von 1.670 Beschuldigten – davon sind 1.429 Diözesanpriester, 24 Diakone und 159 Ordenspriester, bei 58 der Beschuldigten war keine Zuordnung möglich. Als Anzahl der Betroffen nennt die MHG-Studie 3.677 Minderjährige, über 2.300 davon männlichen Geschlechts. Mehr als die Hälfte der Betroffenen war nicht älter als 13 Jahre. Die Studie spricht hinsichtlich der Zahlen von Mindestangaben und einem Dunkelfeld unbekanntem Ausmaßes.
Welche Daten die jeweiligen Bistümer mit welcher Erfassungsgüte an das Forschungsteam übermittelten, geht aus den Studienergebnissen nicht hervor. Von daher kann die Studie keinerlei Vergleichsmöglichkeiten zwischen den Bistümern liefern, also auch kein Ranking in Sachen Aktenführung, Missbrauchsgeschehen, oder Zahlen für Täter und Betroffene ermöglichen. Genau dies wollten die Auftraggeber der Studie, die 27 Diözesanbischöfe, verhindern. Wie der Koordinator der MHG-Studie Dr. Harald Dreßing auf der Pressekonferenz vom 25. September auf Nachfrage betonte, wurde den Diözesanbischöfen explizit vertraglich zugesichert, dass keine bistumsspezifischen Daten bekannt werden. Dies stellt ein großes Defizit für aktuelle und zukünftige Aufklärungs- und Aufarbeitungsbemühungen dar.
Die Akten: unvollständig, manipuliert, vernichtet
Hauptmanko der MHG-Studie ist seine Daten-Grundlage: Die unvollständig geführten und zum Teil manipulierten oder vernichteten Hand- und Personalakten der bischöflichen Ordinariate. Nur wenn sich ein sexueller Übergriff (oder ein ungeklärter Verdacht) in den Akten niedergeschlagen hat (was eben auffällig oft nicht geschah), konnte dieser an die MHG-Forscher übermittelt werden. Die MHG-Studie zeigt neben einer Vielzahl von neuen, wichtigen und datenbasierten Ergebnissen und Erkenntnissen deutlich, dass die Akten von Institutionen, deren primäres Interesse Selbstschutz, die Vertuschung der Taten und das Wohl der Täter sind, eine mangelhafte Grundlage zur Aufklärung von sexuellen Missbrauch und dessen Häufigkeit sind. Folgestudien werden von den Forschern angemahnt.
Was die MHG-Studie nicht thematisiert, sind bedeutsame gesellschaftliche Dunkelfelder, in denen sexueller Missbrauch nicht unbedingt durch Geistliche, aber unter der Verantwortung von Geistlichen geschieht. Dunkelfelder, in denen die katholischen Kirche nämlich als Träger im staatlichen Auftrag oder wirtschaftlich motiviert tätig und als Institution mit moralischen Anspruch verantwortlich ist: Kinder- und Jugendarbeit, Jugendfürsorge, kirchlich geleitete Heime, Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser. Da die von Skandal zu Skandal schlitternde katholische Kirche seit Jahren mit ihrem klerikalen Selbstverständnis und hierarchischen Priesterkult, ihrer Sexualmoral und Homophobie, ihrer Doppelmoral und Privilegien beschäftigt ist, fehlt ihr in dieser Hinsicht jegliche positive gesellschaftliche Ausstrahlung.
II. Wie lauten die Zahlen für das Bistum Regensburg?
Laut einer diözesanen Pressemitteilung wurden in Regensburg aus 1.681 Diözesanakten 81 Beschuldigte und 199 Betroffene ermittelt – 70 Prozent von ihnen sind männlich und über die Hälfte war unter 13 Jahre alt, bei 18 Prozent ist keine Altersangabe vorhanden. 16 Mal soll als „Tatkontext“ das Internat der Domspatzen gemeldet worden sein – dazu später mehr.
Nach den Kriterien des MHG-Teams konnten so 28 staatliche Strafverfahren eruiert werden, 25 davon gegen Priester. Mit der Ermittlung der Daten aus den Personal- und Fallakten und ihrer Zusammenstellung wurde die Juristin Dr. Judith Helmig beauftragt. Helmig ist im Bistum Regensburg als Präventionsbeauftragte und Leiterin der Stabsstelle für Kinder- und Jugendschutz (KiJuSchu) tätig.
Keine weiteren Untersuchungen?
Die Bewertungen und die Schlussfolgerungen aus der Studie fielen in den jeweiligen Diözesen recht unterschiedlich aus und riefen nicht nur bei Betroffenen Verbänden scharfe Kritik hervor – etwa bei der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs ( zur Stellungnahme). Während die Diözese Speyer laut dem Nachrichtendienst katholisch.de ankündigte, „das Forschungskonsortium der MHG-Studie mit einer zusätzlichen Auswertung speziell zum Missbrauch in Speyer zu beauftragen“, hat der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer keine weiteren Untersuchungen oder etwa die Überprüfung aller Personalakten in Aussicht gestellt.
Stattdessen versuchte sich Voderholzer mit der Idee eines einheitlichen und zertifizierten Präventionskonzepts für alle Diözesen zu profilieren. Ein längst bekanntes Vorhaben, das schon die Regensburger Präventionsordnung von Oktober 2017 thematisierte. Die MHG-Forscher hingegen sahen bei der Vorstellung ihrer Studie in der Fixierung auf den Bereich Prävention die Gefahr eines Ausweichmanövers oder Alibis. Alibi für die eigentlich notwendige Aufklärung und Aufarbeitung der strukturellen Missbrauchsbedingungen in kirchlichen Kontexten. Kritische Theologen sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Flucht in die Präventionsarbeit“ – in Regesburg kann man eine solche Flucht seit Jahren eindrücklich beobachten.
In seinem Hirtenwort vom 29. September 2018 meint Voderholzer, die MHG-Studie sei „die erste und bislang einzige Untersuchung, mit der sich eine große Institution der Zivilgesellschaft in Deutschland diesem dunklen Kapitel in umfassender Weise stellt.“ Ob die katholische Kirche zur Zivilgesellschaft gehört, darüber könnte man angesichts der kirchlichen Gerichtsbarkeit und ihren eigenen Rechtsvorschriften trefflich streiten. Dass sich das Bistum Regensburg in „umfassender Weise“ den Strukturen und Geschehen hinsichtlich sexuellen Missbrauchs gestellt habe, ist jedoch sicherlich ein Trugbild, dem nicht nur Bischof Voderholzer anhängt.
Anlässlich der neulich vorgelegten MHG-Studie fiel auch der Generalvikar des Regensburger Bistums, Michael Fuchs, wieder einmal auf. Während der Tenor anderer Bistümer von „Scham“, „Bestürzung“, „Trauer“ oder „Wut“ handelt, meint Fuchs in einer Presseerklärung:
„Wir müssen noch besser werden, schneller, transparenter und verlässlicher.“
Als ob seine Diözese mit gutem Erfolg an einem Leistungswettbewerb teilgenommen hätte und nicht mit dem verheerenden Ergebnis einer externen Missbrauchsstudie konfrontiert ist. Fuchs scheint seinen Kollegen weit voraus zu sein. Auch in der beschönigenden Interpretation von Daten, die unter seiner Verantwortung an die von der Deutschen Bischofskonferenz beauftragten MHG-Forscher übersandt wurden.
Die Erfindung von „Nein-Akten“
Während die Studienmacher von einem unbekannten Dunkelfeld und hinsichtlich der ermittelten Zahlen explizit nur von der sichtbaren Spitze eines Eisbergs ausgehen, liegen Fuchs angeblich oder tatsächlich falsch beschuldigte Kleriker am Herzen. Der Generalvikar des Bistums Regensburg präsentiert deshalb durchgängig sogar Zahlen für Vorfälle, die er als „Nein-Akten“ bezeichnet – ein Terminus, den die MHG-Studie schlicht nicht kennt. Fuchs‘ Presseerklärung mindert demzufolge die nach MHG-Kriterien ermittelten Zahlen für Täter, Betroffene, Orte, Häufigkeitsangaben, etc. mit den von der Diözese eruierten „Verdachtsfällen“. Vorfälle also, die sich laut Fuchs „am Ende nicht bestätigt“ hätten. Etwa weil die Staatsanwaltschaft die Beschuldigungen seinerzeit untersucht habe, aber zu dem Ergebnis gekommen sei, das Verfahren einzustellen oder erst gar nicht zu eröffnen.
Dass ein Verfahren nicht eröffnet oder eingestellt wurde, bedeutet jedoch nicht unbedingt, dass tatsächlich auch kein sexueller Übergriff geschehenen ist. Zur Erinnerung: Obgleich in Sachen Domspatzen die Staatsanwaltschaft nach 2010 über 40 Verfahren eingestellt oder wegen Verjährung und Tod der Täter nicht eröffnet hat, zweifelt heutzutage niemand mehr öffentlich an, dass es tatsächlich eher viel mehr als 40 Übergriffe, denn weniger gegeben hat.
Wer wie Fuchs meint, die an die MHG-Forscher übermittelte Zahl von Missbrauchshinweisen mit „Nein-Akten“ minimieren zu können, versucht, bildlich gesprochen, die Spitze des Eisbergs klein zu reden. Statt sich mit dessen viel größeren, aber unsichtbaren Teil redlich auseinanderzusetzen und sich dem Dunkelfeld, seinen klerikalen Strukturen und der eigenen Vertuschungsgeschichte zu stellen. Dieses wohl beispiellose Vorgehen des Generalvikars kann man nur als ungebrochene Vertuschungsbemühungen begreifen.
Wie man die Spitze des Eisbergs noch kleiner macht
Was im Zuge der MHG-Studie bislang überhaupt nicht thematisiert wurde, ist, dass Generalvikar Fuchs die Auswertung der Regensburger Personalakten schon einmal vornehmen ließ und die Ergebnisse der zwölf Monate dauernden Durchsicht im März 2011 bekannt gab. Damals bemühte sich Generalvikar Fuchs die Spitze des Eisbergs besonders klein erscheinen zu lassen. Er suchte und bilanzierte deshalb nur nach strafrechtlichen Ermittlungen im Sittlichkeitsbereich und nach „verurteilten“ Tätern bzw. deren Opfern.
Seinerzeit ergab die interne Sichtung „nur“ zehn verurteilte Täter (statt 81 Beschuldigte nach MHG-Kriterien) und lediglich 78 Betroffene (statt 199 nach MHG-Kriterien) sexualisierter Gewalt. Hinsichtlich der Gesamtzahlen gab Fuchs 2011 an, dass zwischen 1945 und 2010 etwa 2.350 Geistliche in der Diözese Regensburg tätig gewesen, insgesamt aber nur 2.315 Personalakten untersucht worden seien. Darunter 1.460 von Geistlichen – die restlichen stammen von 100 ständigen Diakonen, von 268 Pastoral- und Gemeindereferenten und -referentinnen, sowie von 487 Religionslehrern und -lehrerinnen im Kirchendienst.
Diese Zahlen für juristisch abgeurteilte Täter präsentierte damals Pressesprecher Clemens Neck in einem sogenannten zusammenfassenden Arbeitsbericht („Fälle sexuellen Missbrauchs im Bistum Regensburg zwischen 1945 und 2010“) vor sorgsam ausgewählten Presseleuten. Generalvikar Fuchs räumte dabei ein, dass er erkennen habe müssen, „ dass es in den Akten der ersten Jahrzehnte des Berichtszeitraums Lücken gibt.“
Über siebeneinhalb Jahre später, anlässlich der Vorstellung der oben genannten MHG-Studie, wurde klar, dass diese Lücken weder ganz geschlossen noch zwischenzeitlich alle Akten durchgesehen worden sind. Laut einem Bericht der MZ, der auf die oben erwähnten Domspatzen-Zahlen gar nicht eingeht, wollte Generalvikar Fuchs auf Nachfrage „auch nicht ausschließen, dass in Akten von verstorbenen Priestern noch Überraschungen drin sind“.
Die homophobe Deutung von Kardinal Müller
Wie äußert sich der geschasste Präfekt der römischen Glaubenskongregation Kardinal Gerhard Ludwig Müller zur MHG-Studie (die ihn mit keinem Wort erwähnt). Während Müller im Mai 2010 als Bischof von Regensburg anlässlich der vielfachen Meldungen zu sexualisierter Gewalt von einer die Kirche diskreditierenden Medienkampagne schwadronierte und frei behauptete, dass der bewiesene statistische Anteil von Übergriffen im kirchlichen Bereich unter 0,1 Prozent falle, wählt er aktuell eine andere Stoßrichtung. Mitte September 2018 anlässlich der vorab bekannt gewordenen MHG-Zahlen zu beschuldigten Klerikern, legte Müller in einem ihm gewogenen, homophoben Internetmedium seine Deutung der Vorfälle dar:
„Der sexuelle Mißbrauch durch hauptsächlich homophile Täter ist nicht in der Sexualmoral der Kirche verwurzelt oder im Zölibat der Kirche, sondern eher in der Laxheit der Moral und der Verletzung von Gottes Geboten und dem Versagen dabei, zölibatär zu leben.“
Die MHG-Studie kommt hingegen zu dem Ergebnis, dass „natürlich weder Homosexualität noch der Zölibat eo ipso Risikofaktoren für sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugendlichen“ darstelle. Vielmehr „(können) das komplexe Zusammenspiel von sexueller Unreife und abgewehrten und verleugneten homosexuellen Neigungen in einer ambivalenten, teilweise auch offen homophoben Umgebung eine Erklärung für das Überwiegen männlicher Betroffener beim sexuellen Missbrauch durch katholische Kleriker bieten.“
So gesehen bestätigt Müllers klerikal-homophobe Deutung ungewollt eine Annahme der MHG-Studie: eine offen homophobe Umgebung stellt eine systemische Begünstigung sexuellen Missbrauchs von Knaben und Jungen in kirchlichen Kontexten dar.
Voderholzer hält den Verantwortlichen die Stange
Eine tatsächliche Aufklärung aller Vorfälle sexuellen Missbrauchs in der Diözese Regensburg dürfte nicht möglich sein, solange der vormalige Bischof Müller und der von ihm eingesetzte Generalvikar Fuchs nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Der derzeitige Bischof Voderholzer hat in dieser Hinsicht aber bislang nichts unternommen. Im Gegenteil, Voderholzer hält unbeirrt am Vertuscher Fuchs fest und trat seinem Doktorvater Müller sogar ein Stück von Lob und Kuchen für die Aufklärung in Sachen Domspatzen ab. Hierzu erstellte Generalvikar Fuchs eigens eine kontrafaktische Chronologie, die bei Betroffenen Domspatzen Entsetzten und Wut auslöste. Und noch etwas verbindet Voderholzer mit seinem Lehrmeister Müller: Auch er spielt gelegentlich die homophobe Karte, bislang allerdings nur gegen Laien.
Von MHG-Forschern ausgewertete internationale Studien zeigen: Wenn vertuschende und übergriffige Bischöfe und Priester vorbehaltslos zur Rechenschaft gezogen wurden, waren immer staatliche Ermittlungs- und Verfolgungsbehörden zugange. So geschehen etwa in Amerika, Australien oder Irland. Von daher ist die Forderung des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, die Aufklärung sexuellen Missbrauchs im klerikalen Kontext unter staatliche Kontrolle zu stellen, zielführend und nur folgerichtig. Bischof Voderholzer, der sich in Sachen externen Aufklärung bei den Domspatzen durch Rechtsanwalt Ulrich Weber zu Recht Verdienste und Achtung von Betroffenen erworben hat, ist auf diese Forderung von Rörig allerdings nicht eingegangen. Aus guten Gründen.
Mit Rörigs Vorgehen würde das Prinzip der Schadensbegrenzung, das bei der Institution Domspatzen angewandt wurde, nicht mehr funktionieren. Ein weiterer enormer Verlust an Kontrolle und Glaubwürdigkeit für die Kirche würde aus staatlichen Ermittlungen wohl folgen, was Bischof Voderholzer sicher nicht will. Der von den Studienmachern bemängelte uneinheitliche Umgang mit Betroffenen scheint Voderholzer egal zu sein. Zahlungen, die diese Ungleichbehandlung zwischen Domspatzen und Nicht-Domspatzen offenlegen, lässt er still und leise auf der Homepage des Bistums veröffentlichen. Voderholzer hält nach wie vor an einem „unchristlichen“ Zweiklassensystem von Betroffenen fest und behandelt etwa missbrauchte Knabenseminaristen weniger wertschätzend als ehemalige Domspatzen mit ähnlichem Schicksal, er speist geschlagene Heimkinder billiger, ohne Anlaufstelle und aufklärende Forschungsarbeit ab.
III. Der Umgang mit den Übergriffen bei den Domspatzen
Die von Generalvikar Fuchs zu verantwortende Regensburger Fakten- und Datenlage hinsichtlich sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen durch männliche Geistliche, bleibt nach wie vor intransparent, widersprüchlich und unüberprüfbar. Dies zeigt sich unter anderem daran, wie mit den Zahlen zu den sexuellen Übergriffen in den Einrichtungen der Regensburger Domspatzen umgegangen wurde und wird.
Wie kam es, dass laut Medienberichten 16 sexuell missbrauchte Domspatzen in die MHG-Studie eingeflossen sein sollen? Anders als etwa der BR/dpa-Bericht anlässlich der Pressekonferenz angibt („16 Fälle ereigneten sich laut Studie im Internat der Domspatzen“), können, wie erwähnt, die anonymisiert an die MHG-Forscher übermittelten Zahlen nicht irgendeinem Bistum zugeordnet werden, geschweige denn dem Domspatzen-Internat.
Tatsächlich stammt die Zahl „16“ aus der vom bischöflichen Pressesprecher Clemens Neck am 25. September 2018 veröffentlichten Presseerklärung zur MHG-Studie. In einer Tabelle namens „Tatkontexte“ gibt es nämlich eine Rubrik „Internat“, die den Eintrag „16“ aufweist – das heißt, in den ausgewerteten Personalakten wird als Tatort 16 Mal „Internat“ genannt. Erst auf Nachfrage von Journalisten während der Pressekonferenz wurde seitens des Bistums eingeräumt, dass mit „Internat“ die „Domspatzen“ gemeint sind. Ob die Anzahl der tatsächlich Betroffen auch bei sechzehn liegt, ist unklar – ebenso die Anzahl der Täter.
Ein sachlicher Grund, warum das „Internat“ der Domspatzen nur 16 Mal als Tatort an die MHG-Forscher und Forscherinnen übermittelt wurde, könnte in einer zeitlichen Überschneidung liegen. Als die Regensburger Diözese Ende April 2016 die zur Erfassung der Hinweise auf sexuelle Übergriffe konzipierten MHG-Fragebögen erhielt, steckte Rechtsanwalt Weber immer noch in der Aufklärung der Gewaltvorfälle in den Einrichtungen der Domspatzen. Als Anfang 2017 alle Bistümer ihre Fragebögen an das MHG-Forscherteam zurückgesandt hatten, war der Abschlussbericht von Weber, veröffentlicht am 18. Juli 2017, noch nicht verfasst.
Und wieder einmal kleinreden
Die große Diskrepanz zwischen den 16 angeblich an die MHG-Studie gemeldeten Domspatzen-Vorfällen und der von Rechtsanwalt Werber im Juli 2017 veröffentlichten Mindestanzahl von 67 sexuellen Übergriffen, erklärte die Präventionsbeauftragte des Bistums Judith Helmig laut der oben zitierten dpa-Meldung damit, dass in die MHG-Studie nur Übergriffe von Klerikern eingeflossen, in Webers Domspatzen-Bericht aber auch Frauen und Laien als Beschuldigte infrage gekommen seien.
Diese „Erklärung“ entspricht aber nicht den Tatsachen. Der eigentliche Grund für die von Weber ermittelten höheren Zahlen liegt darin, dass sein Aufklärungsprojekt im Wesentlichen auf die ertragreiche Mitarbeit von Betroffenen zurückzuführen ist, das MHG-Projekt hingegen auf Akten der Täter und ihrer vertuschenden Institution basiert. Die Erklärung von Helmig ist bestenfalls geeignet die Zahl der übergriffigen Priester – die Eisbergspitze der Täter – kleinzureden.
Tatsächlich waren, oder wurden laut Webers Bericht fast alle neun Personen, die er mit hoher Plausibilität als Missbrauchstäter an Schutzbefohlenen Domspatzen ermitteln konnte, Geistliche und keine Laien – Webers Bericht belegt dies (siehe Tabelle auf Seite 23). Auch der von Weber darin genannte Musiklehrer P. Über diesen sexuellen Serientäter und Prämonstratenser-Mönch Ambrosius Pfiffig berichtete regensburg-digital bereits 2013.
Das gruslige Beispiel Pfiffig
Die Affäre Pfiffig ist ein so erhellendes wie grusliges Beispiel für den von der MHG-Studie nochmals generell bestätigten verantwortungslosen Umgang mit Missbrauchstätern: Sie wurden einfach auf eine andere Stelle versetzt oder in ein anderes Bistum gesteckt. Den seriellen Missbrauchstäter Ambrosius Pfiffig schickte der damalige Regensburger Generalvikar Josef Franz nach den 1948 ruchbar gewordenen sexuellen Übergriffen im Etterzhausener Domspatzenheim (wo er als Seminarleiter und Jugenderzieher wirkte) ausgerechnet zur Jugendseelsorge nach Tirschenreuth.
Nachdem Pfiffig später im Prämonstratenser-Stift in Geras ein Knabenkonvikt aufbaute und es auch dort zu weiteren Übergriffen kam, zeigten ihn Eltern von Betroffenen endlich bei einer staatlichen Stelle an. Pfiffig wurde daraufhin, nach seiner zwischenzeitlichen Flucht, wegen dem „Verbrechen der Unzucht mit Personen desselben Geschlechtes“ zu zwei Monaten „schweren Kerkers bedingt auf 3 Jahre“ verurteilt. Da der Prämonstratenser Pfiffig nach seiner Haft weiter sexuell missbrauchte, wurde er schließlich von kirchlichen Stellen nach Rom hochbefördert, wo er, ausgestattet mit einer Lehrerlaubnis für alle italienischen Hochschulen, als Dozent wirkte.
Die Zahl von Opfern und Tätern ist weitaus höher
Angenommen, das Regensburger Ordinariat müsste demnächst an eine weitere MHG-Studie mit denselben Erfassungskriterien alle aktuell bekannten Domspatzen-Verdachtsfälle übermitteln, dann müssten neben den von Rechtsanwalt Weber ermittelten 67 hoch plausiblen, auch die 13 mit mittlerer und die zwölf Betroffenen mit geringer Plausibilität gemeldet werden. Dadurch würde die Mindestanzahl der von sexuellen Missbrauch Betroffenen im Bistum Regensburg auf etwa 270 steigen. Die MHG-Forscher haben nämlich, wie Rechtsanwalt Weber, die Beschuldigungen weder juristisch noch strafrechtlich kontrolliert, sondern nur eine Plausibilitätsprüfung vorgenommen.
Auf der Seite der Beschuldigten kämen zu den neun mit hoher Plausibilität von Betroffenen gemeldeten, weitere neun Personen hinzu, die mit mittlerer und niedriger Plausibilität als Missbrauchstäter bei den Domspatzen anzusprechen sind. Ein sehr großer Anteil von sexuell missbrauchenden Geistlichen deutet sich somit an.
Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von Missbrauchsopfern eines Geistlichen, der 1959 für acht Monate als Direktor der Internate der Dompräbende und des Domgymnasiums der Regensburger Domspatzen wirkte und nach seiner Entlassung sein Werk als serieller Missbrauchstäter in einer von ihm gegründeten Knabenkapelle fortführte, bis er in den Knast ging: der Priester Georg Zimmermann.
Der Fall Zimmermann
Regensburg-digital hat mehrfach über die Hintergründe berichtet. In der Hochphase der Berichterstattung zu sexuellem Missbrauch bei den Domspatzen, im März 2010, wurde Zimmermann von der bischöflichen Pressestelle wohlfeil als abgeurteilter Altfall präsentiert, ohne dass man dort von der Vielzahl seiner Opfer wusste (oder wissen wollte). Seine Personalakte konnte in dieser Hinsicht nichts zur Aufklärung beitragen, Chormanager Christof Hartmann zeigte sich noch im März 2016 hinsichtlich Zimmerman unwissend.
Nachdem Zimmermann 1959 als Domspatzen-Direktor entfernt werden musste, schob man ihn ans Gymnasium St. Michael im niederländischen Steyl ab, wo er Musik unterrichtete und den Schulchor leitete. Später ließ er sich in seiner Heimatgemeinde Eslarn nieder, bildete dort Knaben „für den sakralen Dienst im Chorgesang“ aus, und gründete die Knaben-Kapelle Eslarn. Da er im Jahre 1963 nicht wie versprochen Domkapellmeister wurde (sondern Georg Ratzinger), berief ihn Bischof Rudolf Graber am 1. Juni 1964 in das neugeschaffene Amt des Diözesanmusikdirektors, wohl eine Art Schadensausgleich.
Zeitgleich agierte Zimmermann weiter in Eslarn und missbrauchte Knaben, woraufhin er nach einer Strafanzeige von Eltern missbrauchter Knaben im Februar 1969 wegen fortgesetzten sexuellen Missbrauchs von Abhängigen und Kindern zu 20 Monaten Gefängnis verurteilt und inhaftiert wurde. Nach seiner Haft unterrichte er wieder privat Knaben und Anfang September 1972 wurde er ein drittes Mal beim Regensburger Bistum angestellt. Dieses Mal übertrug man Zimmermann die Stelle eines Musikpräfekten im Bischöflichen Knabenseminar in Weiden. Nach kurzer Zeit und weiteren Problemen wurde er in den Vorruhestand versetzt. Im Abschlussbericht zur Auflösung des Studienseminars Weiden (1989), verfasst von Josef Ammer (seit 2006 Regensburger Domkapitular und Offizial, der den Bischof bei sogenannten Sittlichkeitsdelikten vertritt), wurde sein Name getilgt, ebenso in einer Festschrift der Domspatzen. Nach seinem Tod benannte das polititsche Eslarn ein Straße nach ihm.
Wie viele Knaben der Priester Zimmermann sexuell missbrauchte, ist unklar. Da ihm ein Regensburger Obermedizinaldirektor 1969 eine verminderte Schuldfähigkeit (Alkohol, abweisende Frauen, etc.) bestätigte, wurden mehrere gleichlautende Eslarner Straftaten nicht weiter verfolgt. Der damalige Staatsanwalt wird in einem Zeitungsbericht von 1969 mit den Worten zitiert, dass von daher „nur eine kleine Spitze zur Aburteilung“ übrig geblieben sei.
Aus dem Abschlussbericht von Rechtsanwalt Weber geht hervor, dass das bischöfliche Ordninariat hinsichtlich des seriellen Missbrauchstäters Zimmermann ab Frühjahr 2010 unter anderem eigene Ermittlungen anstellte, aber keine Ergebnis veröffentlichte. Eine ältere Dame aus Eslarn, die den Priester Georg Zimmermann kannte, schätzt gegenüber regensburg-digital die Anzahl der von ihm dort missbrauchten Knaben mit mehreren Dutzend ein. Die tatsächliche Anzahl der Betroffen bleibt wie der übergroße Teil eines Eisbergs unsichtbar. Ob die Diözese den Serientäter Georg Zimmermann an die MHG-Studie gemeldet hat und, falls ja, wie viele von seinen Opfern, ist unbekannt.
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