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„die Bischofe Fahren Diese Kirche an Die Wand“

By Frank Bachner
Der Tagesspiegel
October 13, 2018

https://www.tagesspiegel.de/politik/umgang-mit-dem-missbrauch-die-bischoefe-fahren-diese-kirche-an-die-wand/23184222.html

Die Missbrauchsstudie der katholischen Bischofskonferenz offenbart tausendfachen Missbrauch durch Klerikale. Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, ist „tief beschamt und erschuttert von der Realitat des Missbrauchs“. Diese Realitat ist allerdings seit vielen Jahren bekannt. Nehmen Sie ihm die Reue ab?

Ich bezweifle nicht seine Betroffenheit. Aber mich verwundert, dass er verwundert ist. Die Zahlen sind ja keine Uberraschung. Zudem gehe ich davon aus, dass die tatsachliche Dimension noch viel gro?er ist als in der Studie dargestellt.

Sie gehen von einer viel hoheren Dunkelziffer aus?

Von einer deutlich hoheren.

Offiziell, ja. Aber eine noch unveroffentlichte Studie der Universitat Ulm rechnet mit uber 100.000 Opfern.

Vermuten Sie, dass die Dimension – ubertragen auf Deutschland – ahnlich dramatisch ist wie die in den USA? Dort enthullte eine unabhangige Grand Jury gerade, dass allein im Bundesstaat Pennsylvania rund 1000 Minderjahrige von mindestens 300 Priestern missbraucht wurden. Der Aufschrei in den USA war gro?.

Eindeutig: ja. Fur die deutsche Studie durften ja ganze Bereiche der Kirche gar nicht untersucht werden. Die Ordensgemeinschaften etwa, darunter also auch das Canisius-Kolleg in Berlin, an dem ich Opfer wurde. Auch die Heimerziehung und die Frauen-Kongregationen wurden nicht berucksichtigt. Die Institution Katholische Kirche hatte zudem nie ein Interesse daran, alle Opfer zu erfassen.

Weshalb nicht?

Ganz einfach, sie hat das Verbrechen des Kindesmissbrauchs gar nicht wahrgenommen, sondern hatte vielmehr den Versto? des Klerikers gegen sein Zolibat-Versprechen im Blick. Im Kirchenrecht ist das bis heute so.

Die Bischofskonferenz verkundete Ma?nahmen aufgrund der Studie. Sie als Sprecher der Betroffeneninitiative „Eckiger Tisch“ erklarten, diese Ma?nahmen machten Sie fassungslos. Was entsetzt Sie so?

Die Bischofskonferenz hat keine konkreten Schritte beschlossen. Jetzt will man uber bestimmte Themen nachdenken. Offensichtlich wollen sich die Bischofe sehr viel Zeit lassen beim Thema Missbrauch. Das ist sehr wenig angesichts der Besturzung, die sie zuvor gezeigt hatten.

Was fordern Sie denn konkret?

In erster Linie, dass die Bischofe an einer staatlichen Aufarbeitung mitarbeiten. In Pennsylvania, in den USA also, und in Australien ist das ja passiert. Und sie sollen uber das Thema Entschadigung sprechen. Die Opfer mussen endlich fur das Versagen der Institution Kirche entschadigt werden. Die Studie raumt mit der Ausrede auf, dass es sich bei dem Missbrauch um eine bedauerliche Vielzahl von Einzelfallen handele. In Wirklichkeit gab es eine Kultur des Missbrauchs und der Vertuschung.

Die katholische Kirche entschadigt bisher Opfer „in Anerkennung des Leids“, nicht aber der Schuld. Wie gravierend ist fur Opfer dieser Unterschied?

Bisher entschadigt die Kirche eben nicht. Sie leistet nur eine symbolische Anerkennung. Der Unterschied ist enorm. Denn so wird die Schuld allein auf die Tater abgewalzt, aber die Mitschuld der Institution fur die Tat und den Umgang mit der Tat beiseitegewischt. Das erleben Opfer als ein zweites Verbrechen. Die beiden Tater am Canisius-Kolleg haben jahrzehntelang missbraucht. Ich hatte nicht Opfer werden mussen, wenn die kirchlichen Vorgesetzten der beiden fruher gehandelt hatten. Und auch nach meinem Missbrauchsfall ware anderen Kindern in den darauffolgenden Jahrzehnten viel Leid erspart geblieben.

Matthias Katsch, Sprecher des Betroffenenverband "Eckiger Tisch". Katsch ist ehemaliger Schuler des Canisius-Kollegs Berlin, einer...FOTO: ARNE DEDERT/DPA

Die Kirche bezahlt einem Opfer meist maximal 5000 Euro. Halten Sie das fur angemessen?

Die Summe soll nur eine symbolische Anerkennung sein. Schon als solche ist sie ein Affront. Aber wenn man sie als Entschadigung betrachten soll, ist sie absolut lacherlich.

Seelisches Leid kann man nicht beziffern. Gleichwohl: Welche Summe halten Sie fur angemessen?

Missbrauch hat einen Einfluss auf das berufliche Leben, er beeintrachtigt zwischenmenschliche Beziehungen und Partnerschaften und oft das Sexualleben. Viele Opfer haben psychische Probleme, manche haben Suchterkrankungen entwickelt. Nicht wenige sind heute arm. Das muss man sich alles vor Augen halten. Vor diesem Hintergrund halte ich eine deutlich sechsstellige Summe fur angemessen.

In einer Kirchengemeinde in Berlin hat im September ein Mann Mitte 60 erstmals uber seinen 50 Jahre alten Missbrauchsfall geredet, ermutigt durch die Studie. Vielleicht gibt es ja in vielen Gemeinden missbrauchte Menschen, die sich jetzt offnen. War die Studie eine Art Initialzundung?

Ich denke, die Initialzundung hat 2010 stattgefunden, als die Missbrauchsfalle am Canisius-Kolleg in Berlin bekannt wurden. Da haben innerhalb weniger Wochen deutschlandweit Hunderte Manner und Frauen uber ihre Erfahrung mit Missbrauch gesprochen. Seither rei?t das Erzahlen uber dieses Leid nicht ab. Jedes Mal, wenn offentlich Debatten stattfinden – wie jetzt aufgrund der Studie –, werden Menschen an ihre Geschichte herangefuhrt und reden daruber. Sehr viele Betroffene, mich eingeschlossen, haben es als sehr befreiend empfunden, dass sie uber diese Erlebnisse reden konnten.

Viele Opfer, die sich an die Kirche gewandt haben, beklagen sich. Man habe sie nicht ernst genommen, sie fuhlten sich abgewiesen oder man habe ihnen schlicht nicht geglaubt. Hat die Kirche immer noch nicht verstanden?

Die Reaktion auf die Opfer ist oft eine Mischung aus Herablassung, weil sich die Kirche in einer machtigeren Position befindet, und schlechtem Gewissen. Wenn man die Briefe an die Betroffenen liest, merkt man wenig von Empathie. Dafur aber umso mehr von den Sorgen um das Ansehen der Institution.

Woruber beklagen sich die Opfer, die an den „Eckigen Tisch“ schreiben?

Sie emporen sich vor allem daruber, dass niemand zur Rechenschaft gezogen wird. Die Opfer wissen naturlich, dass viele Taten verjahrt sind und die Tater deshalb nicht mehr bestraft werden konnen. Aber sie registrieren fassungslos, dass die Institution Kirche, die diese Tater geschutzt hat, offentlich nicht starker in die Verantwortung genommen wird. Die Opfer richten ja auch einen Appell an die Gesellschaft: Ihr musst den Druck auf die Kirche erhohen, damit sie ihr Verhalten andert. In ihrer Studie sagen die Wissenschaftler ja ganz deutlich: Das System, das diesen Missbrauch ermoglicht hat, funktioniert noch. Kinder und Jugendliche sind immer noch akut gefahrdet.

Das System Kirche besteht ja auch aus extremer Hierarchie, Mannerbundelei, verklemmtem Umgang mit Sexualitat. Muss die Kirche also ihr System andern?

Sie begreift allmahlich, dass sexuelle Gewalt in der Kirche nicht etwas Marginales ist. Es steht im Gegenteil im Zentrum der Institution, und es beschadigt das Ansehen der Kirche. Eine Reform muss naturlich an grundsatzlichen Punkten ansetzen: die Rolle des Priesters, die Rolle der Frau, solche Fragen.

Funfmal mehr Priester als verheiratete Diakone sind als Tater aufgefallen. Ist das ein Zeichen dafur, dass das Zolibat uberholt ist?

Das Zolibat ist nur ein Teil des Problems. Es geht um den missbrauchlichen Umgang mit Macht, das uberkommene Verstandnis von Sexualitat und das neurotische Verhaltnis zur Homosexualitat. Die Rolle des Priesters und die priesterliche Lebensform muss angegangen werden, auch wenn es keinen direkten Zusammenhang von Missbrauch und Zolibat gibt. Der Kampf gegen Missbrauch wird erfolglos bleiben, wenn das Pflichtzolibat mit seinen Nebenwirkungen aufrechterhalten bleibt.

Dann passt also der Umgang des Vatikans mit dem Jesuitenpater Ansgar Wucherpfennig, Experte fur das Neue Testament und Rektor der Theologisch-Philosophischen Hochschule St. Georgen, ins Bild? Wucherpfennig hatte die biblischen Verurteilungen der Homosexualitat als „tiefsitzende, zum Teil missverstandlich formulierte Stellen“ bezeichnet. Die Bildungskongregation im Vatikan verweigert ihm deshalb die Unbedenklichkeitserklarung und verlangt einen offentlichen Widerruf.

Ja, genau. Einen Wissenschaftler zum offentlichen Widerruf aufzufordern, 2018 in Deutschland, der nur versucht, die katholische Lehre vorsichtig weiterzuentwickeln und naher an die Wirklichkeit zu fuhren, zeugt von dem Machtmissbrauch, Mangel an Transparenz und der verqueren Haltung zur Sexualitat und Homosexualitat, die in der Studie als ursachlich fur den massenhaften sexuellen Missbrauch in der Kirche identifiziert wurde. Das ist nicht nur ein schlimmer Vorgang, der entlarvt, was von den Worten der Betroffenheit zu halten ist. Es ist auch eine Dummheit, weil sich in der Kirche eine neue Denkweise anzudeuten schien, ermutigt durch Franziskus.

Melden sich bei Ihnen Kleriker, die sagen, so kann es mit dem System Kirche nicht mehr weitergehen?

Ich habe und hatte Kontakt mit Priestern, die das so sehen. Und zunehmend sagen Geistliche das auch offentlich. Der Stadtdekan von Frankfurt erklarte kurzlich in einer Fernsehsendung, das Pflichtzolibat musse uberwunden werden.

Seit 2010 gibt die Leitlinie der Bischofskonferenz vor, dass beim Verdacht von Missbrauch die Strafverfolgungsbehorde eingeschaltet werden muss. Genugt Ihnen das?

Es gibt da bislang eine wesentliche Einschrankung. Die Staatsanwaltschaft muss nur eingeschaltet werden, wenn das Opfer zustimmt. Aber die Kirche als Arbeitgeber muss klarstellen, dass sie grundsatzlich bei einem Verdacht die Staatsanwaltschaft informiert. Ich bezweifle im Ubrigen, dass die Kirche insgesamt vorbehaltlos mit den Behorden zusammenarbeitet. Die Kirche musste doch jetzt viel bereitwilliger als bisher der Staatsanwaltschaft mitteilen: Bitte ermittelt. In der Studie werden ja nicht blo? Straftaten erwahnt, die verjahrt sind.

Der Kolner Erzbischof Woelki fordert auch eine Unabhangige Kommission. Ist das ein Schritt in die richtige Richtung?

Das hangt von den Feinheiten der Aufarbeitung ab, aber grundsatzlich begru?e ich diesen Schritt. Bemerkenswert finde ich, dass er diese Forderung schon vor der Bischofskonferenz erhoben hat. Und was passiert? Seine Bischofskollegen haben wenige Tage spater diese Forderung nicht aufgenommen und nicht in einer gemeinsamen Erklarung formuliert.

Pater Klaus Mertes, der fruhere Leiter des Canisius-Kollegs, sagt: „Die Katholiken schamen sich fremd fur ihre Bischofe. Die Volksseele kocht.“ Davon ist nichts zu erkennen. Ubertreibt er?

Ich bin erstaunt, wie still die Laien in der Kirche nach den Ergebnissen der Studie geblieben sind. Das war in anderen Teilen der Welt teilweise anders, als dort Missbrauchsfalle bekannt geworden sind. Ich war dabei, als wutende Demonstranten den Papst in Chile empfingen. Ich hatte mir gewunscht, dass katholische Laien bei der Bischofskonferenz auch demonstrierten. Wenn diese Stille Ausdruck von Fremdscham ist, kann ich das nachvollziehen, aber ich wunschte mir mehr kampferischen Einsatz.

Warum wird in Chile und in Irland protestiert, aber nicht in Deutschland?

Die jahrzehntelange Unterdruckung von Opposition in der Kirche spielt sicher eine Rolle. Jedes Abweichen von der romischen Linie wurde bestraft. Diesen Fatalismus kennen wir aus dem Endstadium des Ostblocks. Dissidenten wurden ins Ausland abgeschoben, der Gro?teil der Menschen resignierte oder zog sich in die innere Emigration zuruck. Viele Laien in der Kirche konzentrieren sich nur noch auf die Arbeit in der Gemeinde. Aber ich hoffe, dass die Laien bald begreifen, dass sie diese Kirche retten mussen. Denn die Bischofe sind dabei, diese Kirche an die Wand zu fahren.

Papst Franziskus gilt fur viele katholische Laien als Hoffnungstrager. Allerdings wirft man ihm vor, er habe als argentinischer Erzbischof Tater in seiner Kirche geschutzt. Ist er fur Sie ein Hoffnungstrager?

Ich kann mir in einer „Kultur des Missbrauchs und der Vertuschung“, das ist ein Zitat von Franziskus, nicht vorstellen, dass ein Bischof von diesem System unberuhrt geblieben ist. Mich wundern diese Vorwurfe also nicht. Stattdessen wundere ich mich, dass deutsche Bischofe auf die Frage, ob sie sich auch personlich verantwortlich fur dieses System der Vertuschung fuhlen, schlicht sagten: nein. Umso wichtiger, dass Franziskus jetzt begonnen hat, dieses System zu sprengen.

 

 

 

 

 




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