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Uber Die Tater

By Lydia Rosenfelder
Frankfurter Allgemeine
September 24, 2018

http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/studie-ueber-kindesmissbrauch-wie-gehen-dioezesen-mit-faellen-um-15801617.html?printPagedArticle=true#pageIndex_0

Am Dienstag stellen die deutschen Bischofe eine Studie uber Kindesmissbrauch vor. Nur ein Viertel der Falle wird beleuchtet – doch schon das hat es in sich.

Am Dienstag wird die Studie uber sexuellen Kindesmissbrauch in der katholischen Kirche vorgestellt. Sie liefert wichtige Erkenntnisse. Zum Beispiel erklart sie, welches Verhaltnis zwischen Tatern und Opfern besonders riskant ist. Etwa dieses: Ein Junge, gerade in der Pubertat, wird von seinen Eltern auf ein katholisches Internat geschickt. Er wird nicht gefragt, er muss sich fugen. Im Internat hat er Heimweh. Ein Erzieher nimmt sich seiner an. Der Erzieher ist selbst einsam und zudem noch unreif. Er wird zudringlicher, der Schuler zieht sich zuruck, spurt etwas „Fremdes“ im Verhalten des Mannes. Doch ihm fehlt der Mut, das auszusprechen. Der Erzieher fuhlt sich nur noch starker zu ihm hingezogen, immer wieder bedrangt und notigt er den Jungen sexuell. Ruckblickend schildert der Mann das als Ausdruck eines unkontrollierbaren Impulses. Das Verhaltnis schlagt in Gewalt um. Die Autoren der Studie schreiben: Der Erzieher sei in dieser Beziehung, auch fur ihn selbst uberraschend, mit der ganzen Intensitat seiner Gefuhlswelt, Erotik und Sexualitat konfrontiert worden. Damit er weitermachen kann, setzt er den Jungen unter Druck. Macht ihm Versprechungen, droht Strafen an. Der Junge wird schlie?lich so stark von ihm misshandelt, dass die Internatsleitung darauf aufmerksam wird. Der Erzieher wird versetzt.

Das Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, dass Themen wie Sexualitat und Kindesmissbrauch in den Priesterseminaren behandelt werden. Lange wurde das ausgeblendet. Und so zog der Zolibat gerade solche Manner an, die ihre eigene Sexualitat verdrangen. Die Forscher um Harald Dre?ing vom Zentralinstitut fur Seelische Gesundheit in Mannheim fuhrten Interviews mit Tatern, aber auch mit Geistlichen, die keine Kinder missbraucht hatten. Die Nicht-Tater nannten den Zolibat eine „Prufung“, ein „notwendiges Ubel“. Mehr als die Halfte von ihnen war sogar dafur, ihn zu lockern, man solle sich frei entscheiden durfen. Die Tater hingegen sahen darin kein Problem, begru?ten den Zolibat sogar. In ihren Antworten ist erkennbar, dass sie sich bis heute mit ihrer Sexualitat nicht auseinandergesetzt haben. Eine verdrangte Sexualitat aber erhoht das Risiko, Kinder zu missbrauchen. Der uberwiegende Teil der Tater war homosexuell, was in der katholischen Kirche immer noch ein Tabu ist. Bei den Priestern, die keine Kinder missbraucht hatten, war der Anteil Homosexueller viel geringer. Homosexualitat sei zwar kein Risikofaktor fur sexuellen Missbrauch, schreiben die Wissenschaftler. Aber die Kirche musse ihre Sexualmoral und ihre ablehnende Haltung zur Weihe homosexueller Manner „dringend uberdenken“.

Sexueller Missbrauch nur am Rande behandelt

Als die Wissenschaftler vor vier Jahren ihre Fragebogen an die Bistumer verschickten, stellten sie fest, dass noch immer nicht alle Geistlichen in den Diozesen entsprechend geschult waren. In den meisten Diozesen werden Sexualpadagogik und sexueller Missbrauch zwar wahrend der Priesterausbildung behandelt. Aber meist nur am Rande. In vier Diozesen handelt man das an einem Tag ab. In neun Diozesen sind sie nach zwei Tagen damit durch. In einer Diozese gibt es immerhin ein Blockseminar von 47 Stunden. Alle anderen Diozesen beantworteten diese Frage nicht einmal. „Knapp bemessen“, meinen die Forscher. Man konnte auch sagen: Es ist unmoglich, sich in so kurzer Zeit auf so eine gro?e Herausforderung vorzubereiten, ein Leben in Enthaltsamkeit.

Wie viel eine Diozese tut, um Kinder vor Missbrauch zu schutzen, ist eine Frage des politischen Willens. Nur acht Diozesen machen Auffrischungskurse fur Praventionsschulungen. Vorbeugung sehen einige Diozesen nicht als eine fortwahrende Verpflichtung an, sondern als einmalige Sache. Alle Diozesen haben inzwischen Praventionsbeauftragte, auch die wurden befragt. Sie sagen, dass sich die Kirche nur widerwillig mit dem Thema Missbrauch beschaftige.

Abhangig von der Bereitschaft zu kooperieren

Das Problem an der Studie ist, dass sie keine Auskunft daruber geben darf, welche Diozesen es gut machen und welche nicht. Im Text steht nur, die Vorgehensweise in den 27 Diozesen in Deutschland sei sehr verschieden. Die Wissenschaftler hatten keinen direkten Zugriff auf die Unterlagen der Diozesen. Sie waren angewiesen auf die Zuarbeit der Bistumsmitarbeiter. Das kann auch dazu fuhren, dass diejenigen Bistumer, die besonders engagiert geforscht hatten, in der Bilanz am schlechtesten dastehen. Weil sie am meisten herausgefunden haben, statt es zu vertuschen und die Akten zu vernichten. In der Studie hei?t es: „Das Ausma? und die Intensitat der Kooperation ... variierten allerdings zwischen den Diozesen erheblich.“ Auch bei den Entschadigungen fur die Betroffenen ist das so. Manche zahlten diese fast schon automatisch. Andere waren weniger freigiebig. In einer Diozese erhielten nur sieben Prozent der Antragsteller eine Entschadigung.

In diesem Zusammenhang fanden die Forscher unvermutet einen Hinweis auf das tatsachliche Ausma? des Kindesmissbrauchs. Die Zahl der Antrage auf Entschadigung ist namlich viel hoher als die Zahl der Missbrauchsfalle, die die Bistumer den Wissenschaftlern gemeldet haben. In den Archiven der Bistumer fanden sich Hinweise auf 1.670 Geistliche, die in den vergangenen sieben Jahrzehnten 3677 Kinder und Jugendliche missbraucht haben. Aber langst nicht alle Taten wurden gemeldet und dann auch schriftlich vermerkt. Als die Wissenschaftler die Antrage der Betroffenen mit den Missbrauchsfallen aus den Kirchenarchiven verglichen, stellten sie fest, dass sich nur die Halfte davon in den Archiven wiederfand. In den Personalakten sogar nur ein Viertel. Das bedeute fur die Studie, so die Verfasser, „dass sich nur weniger als ein Viertel aller tatsachlichen Falle sexuellen Missbrauchs mit dieser Methode finden lie?en und drei Viertel der Falle im Dunkel blieben“.

Versetzung als Reaktion auf Missbrauch

Der erste Anlauf zu dieser Studie scheiterte. Der Kriminologe Christian Pfeiffer arbeitete daran. Er berichtet, dass er damals einen Anruf bekam. Ein Bischof war dran, Pfeiffer kannte ihn nicht. Der Bischof war schon im Ruhestand. Er sagte, er musse etwas loswerden und wisse nicht, wem er es sonst sagen konne. In seinem Bistum habe es zwei Priester gegeben, die Kinder missbraucht hatten. Nachdem die Taten bekannt geworden waren, versetzte er sie in andere Pfarreien. Ohne die Gemeinden zu warnen. Das belaste ihn bis heute, das musse er mit ins Grab nehmen. Pfeiffer sagt, das sei wenigstens ehrlich gewesen.

Die gro?e Mehrheit der Priester bekam keine Konsequenzen zu spuren. Noch nicht mal kirchenrechtliche Verfahren. Stattdessen waren sie versetzt worden, von einer Pfarrei in die nachste. Pfeiffer hatte die Studie vor funf Jahren noch ganz anders angelegt. Damals sollten nicht Bistumsmitarbeiter die Archive durchkammen, sondern ehemalige Staatsanwalte und Richter. Das habe den Bischofen von Munchen und Regensburg nicht gepasst, sagt Pfeiffer. Kardinal Marx und Kardinal Muller machten ihm daraufhin ein Vertragsangebot, das er nicht annehmen konnte: Sie wollten sich das Recht vorbehalten, Texte der Studie zu verbieten. Pfeiffer lie? sich darauf nicht ein, die Sache platzte. Er sieht es so: Die Bischofe hatten zu spat begriffen, dass diese Studie Transparenz hatte schaffen konnen – sie wollten das nicht.

Kontrolle bleibt bei der Kirche

In der Tat ist es bisher in Deutschland ublich, dass die Kirche sich selbst untersucht. Und damit die Kontrolle behalt. In Munchen war das so, als Kardinal Marx den Missbrauch im Erzbistum aufarbeiten lie?. Das war im Jahr 2010, als berichtet wurde, dass unter Kardinal Ratzinger zwei Tater aus anderen Bistumern nach Munchen versetzt worden waren. Einer davon verging sich im Erzbistum abermals an Kindern. Kardinal Marx lie? Mitarbeiter des Ordinariats die Akten untersuchen und beauftragte eine renommierte Rechtsanwaltskanzlei, das Material auszuwerten. Der Bericht wird seither geheim gehalten, nur eine Kurzfassung ist veroffentlicht. Aus dieser geht nicht hervor, in welcher Weise Ratzinger, der spatere Papst, verwickelt war. Viele Akten aus der Zeit sind vernichtet worden.

Die Praventionsbeauftragten machen in der neuen Studie Vorschlage fur eine „Kultur des achtsamen Miteinanders“. Geistliche und Laien sollten auf Augenhohe sein. Bischofe und Priester sollten sich nicht langer abschotten. Bei Grenzverletzungen sollte es klare Regeln geben. Nicht die hierarchische Ordnung solle das Miteinander bestimmen, sondern der respektvolle Umgang miteinander. Doch das andert sich nur langsam. Die Praventionsbeauftragten konnen das allein nicht schaffen. Die Bistumsleitung muss da schon mitmachen. Aber viele wollen nicht.

Doch es gibt auch Lichtblicke. Bischof Bode in Osnabruck zum Beispiel hatte schon im Jahr 2000 einen Bu?gottesdienst wegen der Missbrauchsfalle in seinem Bistum abgehalten. Zehn Jahre spater wiederholte er das, als einziger deutscher Bischof, anlasslich der vielen Berichte uber sexuellen Kindesmissbrauch. „Was hier an Menschen, an jungen und jungsten Menschen durch Personen der Kirche getan worden ist, muss vor Gott ausgesprochen werden, denn nur unter seinen Augen, unter seinem Blick, in seiner Gegenwart werden wir richtig erkennen, was in unserer Kirche geschehen ist“, sagte er in seiner Predigt. Er bat die Opfer um Vergebung und versprach, „die Hilfen der Begleitung, der Aufarbeitung, der konkreten Hilfe fur sie und mit ihnen ganz auszuschopfen“. Auch der neue Hildesheimer Bischof Wilmer sprach in seinem Weihgottesdienst vor drei Wochen uber sexualisierte Gewalt und Machtmissbrauch in der Kirche: „Diesem Thema werde ich mich von Anfang an mit aller Kraft widmen.“

In der kommenden Woche wollen einige Bischofe selbst Pressekonferenzen abhalten und uber die Ergebnisse aus ihren Bistumern berichten. Bischof Furst im Bistum Rottenburg-Stuttgart hatte sogar schon, nachdem erste Ergebnisse der Studie vorab bekannt geworden waren, offengelegt, was bei den Untersuchungen in seinem Bistum herausgekommen war. Welche Bischofe werden das in den kommenden Wochen ebenso tun? Weil die Studie keine Aussagen uber die einzelnen Bistumer machen darf, haben nur die Bistumsleitungen diese Informationen. Anders als bei den staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen in Australien oder Amerika, wo Diozesen und Tater benannt wurden. In Deutschland bleibt alles anonym.

Die Missbrauchsstudie zeigt, wie unterschiedlich die Diozesen mit den Tatern umgingen: In zwanzig von ihnen musste jeder Fall bei der Staatsanwaltschaft angezeigt werden. In den restlichen sieben Diozesen war das nicht verpflichtend. In achtzehn Diozesen wurden kirchenrechtliche Verfahren gegen die Tater eingeleitet. In acht Diozesen geschah das oft nicht. Eine Diozese hat diese Frage nicht mal beantwortet. Neun Diozesen meldeten Missbrauchsfalle nicht nach Rom, obwohl sie das eigentlich tun mussen. Ein weiteres Problem ist, dass die Anlaufstellen fur Missbrauchsopfer oft mit Leuten besetzt sind, die auch in anderen Geschaftsbereichen der Diozesen oder Generalvikariate tatig sind. Sie haben manchmal sogar herausgehobene Funktionen inne. Damit versto?en sie gegen die Leitlinien fur den Umgang mit Kindesmissbrauch. Denn so gibt es Interessenkonflikte, und die Betroffenen werden abgeschreckt.

Schonungslose Aufklarung und mutige Reformen

Wie gehen die Bischofe und die Priester in den Gottesdiensten damit um? Im Bistum Essen wurde fur den vergangenen Sonntag eine Furbittenempfehlung verschickt. Die Gemeinden sollten beten fur „Kinder, Jugendliche und alle, denen in der Gemeinschaft der Kirche gro?es Leid zugefugt wurde, die sexuell missbraucht und an Leib und Seele verletzt wurden“. Erwahnt werden in der Furbitte aber auch jene, die „nicht sehen wollten, welch schreckliches Leid in unserer Kirche geschah“, und alle, „die vor Ort aus unterschiedlichsten Grunden geschwiegen und nicht achtsam genug reagiert haben“. Der Text endet mit der Bitte an Jesus: „Wecke du die Bereitschaft zu schonungsloser Aufklarung und mutigen Reformen, damit sich in unserer Kirche niemand mehr furchten muss.“

Das Bistum Trier verschickt seit vielen Jahren Furbittenempfehlungen per Email. 2550 Leute haben sie abonniert, auch uber die Grenzen des Bistums hinaus. Regelma?ig kommen darin die Opfer sexuellen Missbrauchs vor. Ein Beispiel aus dem August: „Beten wir fur alle, die als Kinder und Jugendliche sexuell missbraucht worden sind – ausgerechnet von Mannern der Kirche. Fur alle Manner und Frauen, die sich fur die Aufarbeitung dieser Straftaten einsetzen; und fur die, die den Opfern seelsorgerisch zur Seite stehen.“ Die Kirchenmitarbeiter, welche die Furbitten verfassen, tauschen sich daruber mit den Kollegen in der Beratungsstelle fur Missbrauchsopfer aus. Diese haben ihnen zum Beispiel erklart, dass keinesfalls Tater und Betroffene in einer Furbitte genannt werden sollten, eigentlich auch nicht im gleichen Gottesdienst. Das sei verletzend fur die Betroffenen.

Auch das Erzbistum Berlin hat gemeinsam mit dem Bistum Magdeburg vor einer Woche eine Empfehlung fur eine solche Furbitte an die Gemeinden verschickt. In vielen anderen Bistumern hingegen konnen sich die Mitarbeiter nicht erinnern, eine Furbitte fur Missbrauchsopfer gehort zu haben. In Erfurt hei?t es, dass es wohl im Jahr 2010 solche Furbitten gegeben habe. Ahnlich war es in den Bistumern Limburg, Koln, Eichstatt, Passau, Munster, Paderborn, Fulda, Gorlitz und Regensburg. Furbittenempfehlungen gab es dort nicht.

 

 

 

 

 




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