| Sexueller Missbrauch Von Kindern: "Bund Und Lander Spielen Poker Zu Lasten Der Opfer"
Spiegel Online
May 20, 2016
http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/deutschland-fonds-fuer-missbrauchsopfer-geht-das-geld-aus-a-1092689.html
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Missbrauchsbeauftragter des Bundes: Johannes-Wilhelm Rorig
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Mehr als 5000 Menschen, die als Kinder in Deutschland in der Familie sexuell missbraucht wurden, haben bisher Hilfe beantragt beim Fonds Sexueller Missbrauch.
Der Fonds wurde im Mai 2013 auf Empfehlung des Runden Tischs Sexueller Kindesmissbrauch eingerichtet. Das Ziel: Betroffene, die keine Hilfen nach dem Opferentschadigungsgesetz erhalten oder keinen Anspruch auf Kostenubernahme fur Therapien durch die Krankenkassen haben, sollten unterstutzt werden. Bis zu 10.000 Euro konnen seitdem jedem Einzelnen fur Therapien und Hilfen im Alltag zur Verfugung gestellt werden.
Eine gute Sache, doch jetzt schlagt der Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung Alarm: Der Fonds sei bereits fast leer und eine Anschlussfinanzierung nicht in Sicht, sagt Johannes-Wilhelm Rorig.
Zwar stellte der Bund 50 Millionen Euro zur Verfugung. Die Lander sollten zugig noch einmal dieselbe Summe zuschie?en. Doch es blieb bei einzelnen Absichtserklarungen: Bis heute haben lediglich Mecklenburg-Vorpommern und Bayern eingezahlt - knapp uber eine Million Euro kam aus dem Norden, 7,6 Millionen Euro aus dem Suden. Der Rest der Republik scheint die Sache aussitzen zu wollen.
SPIEGEL ONLINE: Herr Rorig, wieviel Geld haben Sie noch im Topf beim Fonds Sexueller Missbrauch?
Rorig: Derzeit sind von rund 58 Millionen Euro noch etwa zehn Millionen ungebunden. Versprochen worden sind uns ursprunglich 100 Millionen, aber die Gelder aus 14 Bundeslandern sind leider ausgeblieben.
SPIEGEL ONLINE: Sind die Lander rechtlich zur Zahlung verpflichtet?
Rorig: Nein, leider nicht. Im Gegenteil - sie haben von Anfang an gesagt, dass sie nicht in den Fonds einzahlen wollen und dies auch im Abschlussbericht in einer Fu?note vermerkt. Sie gingen davon aus, dass die Vorgaben der Krankenversicherungen und das Opferentschadigungsgesetz so schnell reformiert wurden, dass der Fonds uberflussig werde. Die Rucklagen wurden verstanden als erganzende Hilfe, als Brucke zur Reform.
SPIEGEL ONLINE: Aber die Reform des Opferentschadigungsgesetzes steht doch noch ganz am Anfang.
Rorig: Eben. Wenn der Fonds demnachst leer ist, gehen auch die Betroffenen leer aus. Es ist sehr schwer, ihnen das verstandlich zu machen. Viele sind sehr enttauscht, weil sie den Versprechungen geglaubt haben und schon sehr lange auf Hilfen warten. Bund und Lander spielen politisches Poker zu Lasten der Opfer, das ist unhaltbar.
SPIEGEL ONLINE: Familienministerin Manuela Schwesig glaubt, dass die Antrage mit den verbliebenen Mitteln bewaltigt werden konnen.
Rorig: Die Bundesregierung ist in der Pflicht, die Lander endlich dazu zu bringen, ihren Beitrag zu leisten. Wenn das nicht gelingt, muss der Bund einspringen, damit die versprochenen 100 Millionen Euro bei den Betroffenen ankommen.
SPIEGEL ONLINE: Wie lange dauert die Bearbeitung eines Antrags auf Unterstutzung durch den Fonds?
Rorig: Unnotig lange. In der Regel vergeht mehr als ein Jahr zwischen Antragsstellung und Leistungszahlung. Das liegt am fehlenden administrativen Willen, zusatzliche Stellen zu schaffen. Fur die Betroffenen ist so ein Antrag ein schmerzhafter Prozess des Erinnerns - sie mussen das Tatgeschehen beschreiben und die Vorwurfe formulieren, das ist belastend. Dennoch stellen sich viele den Fragen: Allein im vierten Quartal 2015 gingen 500 Antrage ein, Tendenz steigend.
SPIEGEL ONLINE: Welche Sachleistungen haben die bisher entschadigten 2000 Opfer bekommen?
Rorig: Vor allem Therapien. Krankenkassen bezahlen in der Regel nur anerkannte Verhaltens- und Psychotherapien, aber zum Beispiel keine Kreativ- oder Gesprachstherapien, die viele Missbrauchsopfer bevorzugen. Auch Hilfen in der Lebensfuhrung sind wichtig - etwa die Bereitstellung eines Elektrofahrrades, wenn die Person den Weg zur Therapie nicht mehr zu Fu? oder mit einem normalen Rad bewaltigen kann. Auch Hilfs- und Heilmittel werden vom Fonds finanziert.
SPIEGEL ONLINE: Welche Punkte sind auf dem Weg zu einer Reform des Opferentschadigungsgesetzes noch besonders knifflig?
Rorig: Der Leistungskatalog und die Kausalitatsfragen, also die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Missbrauch und der Hilfe, die beantragt wird. Vor allem aber muss die sogenannte Hartefallklausel gekippt werden: Demnach erhalten Betroffene, die vor 1976 in Westdeutschland und vor 1990 in der DDR zum Opfer wurden, nur dann Hilfen, wenn sie durch den Missbrauch zu 50 Prozent schwerbehindert sind. Fur den Gesetzgeber ist die Sache klar: Das Opferentschadigungsgesetz trat erst 1976 in Kraft, und fur Sexualdelikte in der DDR will der Bund nicht aufkommen. Aber wie soll man das den Betroffenen plausibel machen?
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