| "Kirchliche Opfer Konnen Entschuldigungen Nicht Mehr Glauben"
By Christine Jeske
Main Post
May 13, 2016
http://www.mainpost.de/regional/wuerzburg/Bibel-Bischoefe-Evangelium-Literaturtipps-Missbrauchsopfer-Pfarrer-und-Pastoren;art735,9223396
Erika Kerstner beschaftigt sich mit dem Thema „Glaube nach Gewalterfahrungen“. Die ehemalige Lehrerin fur katholische Religion grundete vor 16 Jahren in der Region Karlsruhe die Initiative „GottesSuche“, die sich als okumenische Arbeits- und Selbsthilfegruppe versteht. Sie unterstutzt vor allem weibliche Missbrauchsopfer, weil sie beobachtet hat, dass Frauen anders als Manner mit ihrer Missbrauchserfahrung umgehen.
Zudem ist sie der Meinung, dass mannliche Opfer mannliche Seelsorger brauchen. Erika Kerstner informiert auf ihrer Webseite (www.gottes-suche.de), ist Buchautorin (siehe Literaturtipp am Ende des Textes) – und schreibt ab und an auch Briefe, wie jungst an den Wurzburger Bischof Friedhelm Hofmann.
Frage: 2010 wurde das Ausma? der Missbrauchsfalle im Canisius-Kolleg in Berlin bekannt. Seither wurden Leitlinien uberarbeitet, externe Missbrauchsbeauftragte ernannt, Praventionsangebote geschaffen. Wie steht es mittlerweile um den Aufklarungswillen der Kirche bei Missbrauchsvorwurfen gegen Kleriker?
Erika Kerstner: Es gibt Kirchenverantwortliche, die verstanden haben, was Menschengewalt anrichten kann und dass die erlittene Gewalt meist lebenslangliche Folgen hat. Sie horen den Opfern zu, nehmen sie ernst, klaren auf, so gut das moglich ist, veroffentlichen ihre Aufklarungsergebnisse und haben ein offenes Ohr und Herz fur die Opfer. Diese Kirchenverantwortlichen beschuldigen die Opfer nicht und grenzen sie nicht aus. Und es gibt Bistumer, in denen das anders ist. Dort werden die Opfer ausgegrenzt oder gar als Feinde der Kirche betrachtet.
Gerade hat Kardinal Karl Lehmann, der Bischof von Mainz, in einem Interview mit dem Kolner Stadt-Anzeiger gesagt, dass ihn die Falle sexuellen Missbrauchs durch Priester zwar erschuttern wurden, er aber manchmal den Eindruck habe, es gehe den Opfern heute nicht zuletzt um die Entschadigung.
Kerstner: Das ist eine typische Diskriminierung von Missbrauchsopfern. Immer wieder wird sie als Geldgier formuliert. Oder wenn Opfer Gerechtigkeit und die Anerkennung der Wahrheit wunschen, werden sie immer noch als rachsuchtig dargestellt.
Immer wieder – auch in Kommentaren unserer Leser – wird Opfern vorgeworfen, dass es ja nicht so schlimm sein konne, weil sie so lange geschwiegen hatten.
Kerstner: Das geschieht aus Unkenntnis heraus. Diese Leute wissen nichts uber die Scham des Opfers, das lange schweigt oder das Erlittene in einer Amnesie abspalten musste. Nicht selten wird zudem behauptet, dass heutige Opfer kunftige Tater sind. Innerkirchlich kommt hinzu, dass ihnen die Beschadigung des Rufs der Kirche angelastet wird. Immer wieder fallt mir auf, wie oft uber die Opfer gesprochen wird – und wie wenig mit ihnen.
Thomas Ke?ler, Generalvikar der Diozese Wurzburg, hat sich aktuell in einer Pfarrgemeinde bei den Glaubigen entschuldigt– fur den Ruhestandspriester, dem Missbrauch vorgeworfen wird, fur die Diozese, deren Umgang mit dem Fall „nicht gerade supertoll“ gewesen sei. Diozesanrichter Klaus Schmalzl sagte dort, dass die Kirche grundsatzlich Missbrauch mit aller Entschiedenheit verfolgen und nach ihren Moglichkeiten aufklaren werde. Klingt das nicht positiv?
Kerstner: Ja, das klingt zunachst positiv. Aber viele kirchliche Opfer konnen den Entschuldigungen nicht mehr glauben. Sie haben schon zu viele gehort und zu wenig wirkliche Veranderung im Verhalten der Kirchenverantwortlichen erfahren. Auch Menschen, die in nicht-kirchlichen Kontexten Opfer wurden, schauen aufmerksam auf das Verhalten der Kirche. Ich wei? um nicht wenige Opfer, die sich inzwischen verletzt und hoffnungslos abgewandt haben.
Diese Abkehr von der Kirche und dann oft auch vom Evangelium geschieht in verzweifelter Stille, sie macht keinen Skandal und keine Schlagzeile – verheerend fur die Kirche und fur das Evangelium und trostlos fur die Betroffenen ist sie dennoch.
Welche Fahigkeiten sollten Seelsorger im Umgang mit Missbrauchsopfern haben?
Kerstner: Es ist wichtig, dass Seelsorger Opfern eine Stimme geben und die Anliegen von Missbrauchsopfern in die Gesellschaft und in die Kirche hinein vermitteln. Sie mussen zuhoren konnen und an der Seite des Opfers stehen. Sie durfen das Opfer nicht bevormunden und es nicht auf die Opferrolle reduzieren. Missbrauchsopfer sind ja nicht nur Opfer, sie stehen ja mitten im Leben, bewaltigen berufliche und familiare Anforderungen.
Wo sto?t Seelsorge an ihre Grenzen?
Kerstner: Dazu gehort zum Beispiel die Frage nach dem Warum des Leides. Diese stellen Missbrauchsopfer immer wieder. Seelsorger mussen das aushalten, auch, dass es keine Antwort auf diese Frage gibt – und die Frage dennoch gestellt werden muss. Und schlie?lich mussen SeelsorgerInnen damit rechnen, dass sie selbst ein Stuck weit miterleben, was Opfer als „Ausgrenzung“ und „Nicht-Zugehorigkeit“ erleiden. Wer sich mit Opfern solidarisiert, erlebt nicht selten, dass andere Menschen auf Distanz gehen. Mit Opfern hat niemand so gerne zu tun. Sie erinnern ja andere Menschen daran, dass die Gewalt sie selbst hatte treffen konnen. Die Zerbrechlichkeit des Lebens und seine Gefahrdung lasst sich niemand gerne bewusst machen.
Kirchliche Missbrauchsopfer hadern oft mit ihrem Glauben.
Kerstner: Wer oft uber lange Zeit erlebt hat, was ein Mensch einem Menschen – gar einem Kind oder Jugendlichen – antun kann, dessen Vertrauensfahigkeit ist zutiefst erschuttert. Diese Menschen mussten nicht nur die sexuelle Gewalt erfahren, sie mussten auch erleben, dass ihnen niemand geholfen hat, kein Gott und kein Mensch. Sie waren ganz alleine in einem Universum von Gewalt, Schmerz, Einsamkeit und Unberechenbarkeit. Diese Erfahrung pragt sich unwiderruflich ein.
Lasst sich Vertrauen wieder aufbauen?
Kerstner: Ein Opfer muss in der Regel sechs bis sieben Menschen ansprechen, bevor ihm jemand Glauben schenkt. Gewaltopfer haben also allen Grund zu Misstrauen. Vertrauen fallt ihnen schwer. Glaube jedoch hat zentral mit dem Vertrauen in einen guten Gott zu tun. Wenn diese Menschen erfahren, dass andere Menschen an ihrer Seite stehen, dann konnen sie neu oder erstmals lernen, dass Vertrauen auch ihnen moglich ist. Dann konnen sie auch wieder ein Gespur dafur bekommen, dass Gott es vielleicht doch gut mit den Menschen meint.
Dieses Gespur, dass es Gott vielleicht gut mit einem meint, genugt?
Kerstner: Nicht nur. In der Gewalt sind alle Beziehungen – zu sich, zu anderen Menschen, auch zu Gott – erschuttert worden. Die Opfer erleben, dass sie nirgends mehr dazugehoren. Deswegen ist es wichtig, dass sie erleben durfen, dass ihr Leben „der Rede wert“ ist, dass es Menschen gibt, die Anteil an ihrem Leben nehmen, die ihnen Glauben schenken, die nicht davonlaufen, die mit ehrlichem Interesse zuhoren.
In der Religion spielt auch die Frage der Vergebung eine gro?e Rolle.
Kerstner: Vergebung wird von Missbrauchsopfern oft sehr schnell eingefordert. Die Umkehr des Taters, seine Reue, sein Bekenntnis, seine Verantwortungsubernahme und seine Wiedergutmachung, werden dagegen selten thematisiert. Opfern, die nicht vergeben, wird mit chronischen Erkrankungen gedroht. Sie werden als unchristlich diffamiert, wenn sie nicht vergeben. Ubersehen wird, wie schwer es ist, jemandem zu vergeben, der sich fur unschuldig halt. Und das tun die meisten Tater.
Jesus hat seinen Mordern vergeben: Welche Bedeutung hat dieser Hinweis auf die Bibel fur ein Opfer?
Kerstner: Jesus hat nicht selbst verziehen, er hat seinem Vater im Himmel die Vergebung anvertraut. Und das ist realistisch. Das konnen auch Missbrauchsopfer manchmal sagen: Die Schuld des Taters ist eine Sache zwischen Gott und dem Tater.
Betroffene suchen haufig die Schuld bei sich selbst.
Kerstner: Die Schuld gehort eigentlich zu den Tatern. Opfer mussen erst langsam lernen zu unterscheiden zwischen den in der Gewalt aufgedruckten Schuldgefuhlen – und ihren realen Fehlern. Vergebung ist meist ein langer Prozess und manchmal kommt er bis ans Lebensende des Opfers nicht zum Ende. Auch das mussen Seelsorger aushalten.
Sie haben einen Brief an den Wurzburger Bischof Friedhelm Hofmann geschrieben und sich darin zum Fall Alexandra Wolf geau?ert. Warum?
Kerstner: Anlass war fur mich die Predigt des Bischofs zur Wiedereroffnung der Kilianskrypta. Darin sprach er von offentlichen Kampagnen gegen die Kirche und von Missachtung der Unschuldsvermutung. Ich denke, die Kirche tut gut daran, nicht nur fur den Beschuldigten die Unschuldsvermutung hochzuhalten, sondern auch dem Opfer oder dem mutma?lichen Opfer mit der Vermutung zu begegnen, dass es die Wahrheit sagt.
Mir sind in meiner Arbeit mit Missbrauchsopfern so gut wie nie Menschen begegnet, die sich falschlich als Missbrauchsopfer hinstellten. Das wird bestatigt durch die Au?erungen von Missbrauchsbeauftragten: Falschbeschuldigungen kommen vor, sind aber sehr selten. Mir scheint es – fur die Opfer, aber auch fur die Glaubwurdigkeit der Kirche – wichtig zu sein, dass die Kirche sich an der Seite derer positioniert, die „unter die Rauber gefallen“ sind.
Hat sich die Kompetenz fur spirituelle Fragen und Verletzungen der Missbrauchsopfer erhoht?
Kerstner: Vor einem knappen Jahr erst hat Pater Zollner, Prasident des Kinderschutzzentrums der Papstlichen Universitat Gregoriana in Rom, festgestellt, dass die Theologie noch gar nicht begonnen hat, sich den theologischen Fragen zu stellen, die durch das Leid von Missbrauchsopfern aufgeworfen werden. Immer noch scheint weithin unbekannt, was Missbrauchsopfer denken, fragen, fuhlen und erleben.
Welche Fragen stellen sie?
Kerstner: Zum Beispiel: Taugt die biblische Botschaft fur Menschen, die unter die Rauber gefallen sind? Steht Gott auf der Seite der Opfer oder hat er sich mit den Machtigen verbundet? Und gibt es Menschen, die zusammen mit den Missbrauchsopfern diesen Fragen nachgehen? Und wie mussen sich kirchliche Sprache und Verkundigung verandern, damit der christliche Glaube auch den Missbrauchsopfern Heimat werden kann? Ich denke, dass das Leben und Leiden von Missbrauchsopfern tatsachlich ein Belastungstest fur das Evangelium ist.
Das Evangelium ist voll mit Gewaltszenen. Ist das fur Opfer nicht verstorend?
Kerstner: In der Bibel gibt es tatsachlich viele Texte, die von Gewalt erzahlen. Deswegen lehnen nicht wenige Menschen, auch Christen, solche Texte ab. Sie ubersehen dabei, dass die Bibel die Gewalttatigkeit von Menschen nicht erfindet, sondern sie aufdeckt. Viele der Gewalttexte muss man aus der Perspektive ohnmachtiger Opfer verstehen, denen niemand zu Hilfe kommt. Diese Menschen rufen Gott als Helfer gegen erlittenes Unrecht an und fordern Gerechtigkeit von Gott. Sie nehmen das Recht eben nicht in die eigene Hand, sie verweigern sich vielmehr der Rache, ohne auf den berechtigten Wunsch nach Gerechtigkeit zu verzichten.
Wer die Bibel aus der Perspektive von Opfern liest, wird spuren, wie wichtig es fur biblische und heutige Menschen ist, von ihrem Leid erzahlen zu durfen. Da darf man sich nicht von einer oft martialischen Sprache abschrecken lassen. Wer entsetzlich leidet, hat keine Kraft fur Hoflichkeiten gegenuber den Gewalttatern.
Konnen Sie ein Beispiel nennen?
Kerstner: Im Psalm 137 betet ein Mensch im Blick auf die Babylonier, die Jerusalem dem Erdboden gleichgemacht hatten: „Wohl dem, der dir heimzahlt, was du uns getan hast! Wohl dem, der deine Kinder packt und sie am Felsen zerschmettert!“ Der Beter richtet seine Bitte an Gott, er greift nicht selbst zur Gewalt, aber er beschreibt, was er selbst miterleben musste und was seinem Kind und ihm angetan wurde.
Erleben Frauen ihren Missbrauch anders, weil die Amtskirche eine hierarchisch aufgebaute Mannerkirche ist?
Kerstner: Seit 2010 stehen – mit den Opfern des Canisius-Kollegs und der Odenwaldschule – Jungen im Vordergrund. Auch wenn es gut und wichtig ist, dass Manner sich als Opfer zu erkennen geben konnen, so beobachte ich doch, dass weibliche Opfer seither seltener wahrgenommen werden und sich auch seltener zu Wort melden. Deren Dunkelziffer durfte nach wie vor sehr hoch sein. Innerkirchlich kommt hinzu, dass „die“ Kirche den Frauen im Alltag als eine mannlich gepragte und machtige Institution gegenubersteht, die sich um ihr Ansehen oft mehr sorgt als um die Opfer. Da fallt Frauen das Sprechen uber einen hoch schambesetzten sexuellen Missbrauch besonders schwer. Und naturlich ist sexueller Missbrauch ausgerechnet durch Priester immer zugleich auch eine Verdunkelung oder gar Zerstorung des Gottesbildes bei den Opfern. Diesen Opfern steht also die spirituelle Ressource ihres Glaubens nicht mehr oder nur reduziert zur Verfugung.
Literaturtipp: Erika Kerstner, Barbara Haslbeck, Annette Buschmann: „Damit der Boden wieder tragt. Seelsorge nach sexuellem Missbrauch“ (240 Seiten, Schwabenverlag, 19,99 Euro). Barbara Haslbeck ist katholische Theologin und Referentin in Freising; Annette Buschmann ist Leiterin der Abteilung Lebensberatung der Diakonie in Chemnitz und als Supervisorin in der Evangelischen Kirche tatig.
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