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„terror in Regensburger Heimen“

By Robert Werner
Regensburg Digital
May 2, 2016

http://www.regensburg-digital.de/terror-in-regensburger-heimen/29042016/

Vor 45 Jahren prangerten Regensburger Schuler offentlich „Terror“ an. In der von ihnen im Jahre 1971 verteilten Broschure „terror regensburger heimen“ kritisierten sie gewalttatige Ubergriffe und autoritare Strukturen, vor allem in kirchlichen Internaten. Die Verantwortlichen der Heime wiegelten damals ab. Ein geistlicher Direktor bestritt die Vorwurfe barsch und stieg wenige Monate spater zum Direktor der Internate der Regensburger Domspatzen auf.

Rief die Polizei auf den Plan: die 1971 erschienen Broschure „terror in regensburger heimen“.

Im Januar 2015 hat auch der Regensburger Bischof Rudolf Voderholzer von „Terrorsystem“ gegen Heimzoglinge gesprochen und dieses verurteilt. Mit dieser Bewertung leitete er einen uberfalligen Kurswechsel im Umgang mit Gewaltopfern ein. Allerdings beschrankt sich seine Wahrnehmung auf die Einrichtungen der Regensburger Domspatzen in Etterzhausen und Pielenhofen. Die Gewaltopfer und Tater anderer kirchlicher Einrichtungen scheinen fur Voderholzer kein Thema zu sein. Die Anfrage unserer Redaktion blieb unbeantwortet. Ein aufschlussreicher Ruckblick.

Schulerproteste gegen korperliche Zuchtigung an Schulen und Internaten

Als Schuler zum Beginn des Schuljahrs 1971 die Broschure „terror in regensburger heimen“ vor Regensburger Internatsschulen verteilten, griff die Polizei ein. Allerdings interessierte sich diese nicht fur mutma?liche Gewalttater, sondern fur die Verteiler der mit „Dokumentation“ betitelten Schrift. Vier der 25 Aktivisten aus dem „Aktionszentrum unabhangiger Schuler“ (AUS) wurden aufs Revier abgefuhrt und ihre Personalien festgestellt.

Die 36seitige Broschure mit einer Auflage von 2.500 Stuck beklagte „offenen Terror und totale Bespitzelung“, die Verletzung des Postgeheimnisse, Gruppen- und Prugelstrafen. Kritisiert wurde die Situation in neun Heimen. Nicht nur die bischoflichen Internate Niedermunster, Westmunster und Am Singrun, auch die kirchlich gepragten Studienseminare St. Emmeram, St. Fidelis und das Madcheninternat der Englischen Fraulein wurden scharf beanstandet.

Die Autoren, hervorgegangen aus der Redaktion der verbotenen Schulerzeitung SKUNK des Albertus-Magnus-Gymnasiums, wollten ihre Kritik an den Missstanden in die Offentlichkeit tragen, damit „es den Direktoren und Erziehern nicht mehr moglich (ist), das Heim oder die Schule als von der Umwelt abgeschlossenes Feld ihrer Willkur zu betrachten.“

Abschlie?end fordern die Macher der Broschure, herausgegeben von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), fur die Zoglinge demokratische Grund- und Menschenrechte und weitreichende Konsequenzen: Alle, „die sich einer repressiven Erziehung schuldig gemacht haben, mussen ihren Posten entfernt und zur Verantwortung gezogen eingefuhrt werden“. Ebenso fordern sie die Einsetzung einer unabhangigen Kommission ohne „kirchenfreundliche Krafte, die in Bayern mit Haupttrager der repressiven Heimerziehung sind“, um die „Zustande in bayerischen Heimen“ zu untersuchen. Letzteres ist bekanntlich nicht geschehen.

Die Zustande in den Regensburger Einrichtungen waren keine Ausnahme.

Schuler- und Lehrlingsbewegung kommt nach Regensburg

Das „Aktionszentrum unabhangiger Schuler“ (AUS) war keine Regensburger Besonderheit. Vielmehr Teil einer bundesweiten antiautoritaren Schuler- und Lehrlingsbewegung, die sich nach einem entsprechenden Aufruf des Sozialistischen Studentenbunds (SDS) von 1967 auch in der Universitatsstadt Regensburg entwickelte. Die seinerzeit vorgetragene Heimkritik entzundete sich Ende der 1960er zunachst an gravierenden Missstanden in der Unterbringung von minderjahrigen Zoglingen in Fursorgeheimen. An den Recherchen und der parallel laufenden Skandalisierung waren ma?geblich Ulrike Meinhof und Gudrun Enslin beteiligt, die wenige Jahre spater zu den ersten Mitgliedern der RAF werden sollten.

Einige Fursorgeheime wurden in der Folge geschlossen, viele Zoglinge fluchteten. Der SPIEGEL-Redakteur Peter Wensierski hat diese Zusammenhange in seinem richtungweisenden Buch Schlage im Namen des Herrn aufgearbeitet.

Im Anschluss an diese landesweite Bewegung griffen Aktivisten in Regensburg die Situation in Schuler- und Lehrlingsheimen auf und organisierten Proteste dagegen. Auch die Staatsschutzabteilung der Kriminalpolizei wurde aktiv und uberwachte den Treffpunkt des „Aktionszentrums unabhangiger Schuler“ (AUS), der im Altstadtgasschen Hinter der Grieb Nr. 5 lag. So erzahlt es ein ehemaliger AUS-Aktivist der Redaktion von regensburg-digital.

Neben den erwahnten kirchlichen Schulinternaten wurden in der Regensburger Broschure auch die Verhaltnisse im katholischen Lehrlingsheim Don Bosco und in den Pindl-Internatsschulen kritisch angesprochen. Die Zustande in den Regensburger Fursorgeheimen wurden allerdings nicht aufgegriffen, ebenso wenig die in den Domspatzeninternaten. Letzteres war zwar geplant, kam aber nicht mehr zustande.

Auffallig ist, dass das Thema sexuelle Ubergriffe generell unerwahnt blieb. Dies ist deshalb bemerkenswert, da etwa die Berichte uber die Verurteilung des Domspatzendirektors Friedrich Zeitler wegen sexuellen Missbrauchs nur elf Jahre und die von Georg Zimmermann gerade einmal zwei Jahre zuruck lag. Allerdings scheuten die damaligen Zeitungsberichte davor zuruck, die ehemalige Arbeitsstelle der Tater, das „Domspatzen-Internat“, zu nennen.

Eine substantielle offentliche Auseinandersetzung mit sexualisierter Gewalt in kirchlichen oder schulischen Einrichtungen existierte um 1970 schlicht uberhaupt nicht, auch nicht im SDS oder bei den unabhangigen Schulern. Es ging ihnen um sexuelle Befreiung.

„Kein Lehrer darf dich schlagen“

In einem weiteren ebenfalls von AUS-Aktivisten verteilten Flugblatt werden daruber hinaus die Prugelstrafen der Lehrkrafte an der stadtischen Pestalozzi Hauptschule klar verurteilt: „Kein Lehrer, auch nicht der Schulleiter, darf einen Schuler prugeln oder anders korperlich strafen!“. Dieses vierseitige, mit einem Comic und der Jahreszahl „1971“ illustrierte Flugblatt nennt sogar acht prugelnde Lehrkrafte beim Namen. Auch Beispiele: „Herr Brau (hat) wahrend der Pause im Pausenhof einen Schuler ins Gesicht und zu Boden geschlagen“.

Neben der Prugelstrafe werden im Flugblatt zugleich beleidigende Beschimpfungen beklagt oder die freie Klassensprecherwahl gefordert. Der Tenor: „Wi?t ihr, was fur Rechte ihr habt?? Wi?t ihr, da? manche Lehrer an Euer Schule gegen Eure gesetzlichen Rechte versto?en??“ Als Beleg dafur, dass die Prugelstrafe „wirklich verboten ist“, zitieren des Autoren des Flugblatts die aktuelle bayerische Schulordnung fur Volksschulen: „korperliche Strafen … sind nicht gestattet.“ Im damals angesagten Ton werden die Hauptschuler aufgefordert zusammenzuhalten, ihre Rechte einzufordern und „Ungerechtigkeiten“ an das Aktionszentrum unabhangiger Schuler zu melden.

Kurioserweise blieben Lehrer, die trotz des Verbots prugelten, zum Teil noch viele Jahre vor staatlichen Gerichten ungestraft. Hochstrichterliche Urteile gestanden ihnen namlich im Zweifelsfall aufgrund eines angeblich ausgeubten Gewohnheitsrechts Straffreiheit zu. Etwa falls die Prugel ma?voll, angemessen und anlassbezogen waren, wie z.B. die beruchtigte Ohrfeige, wenn sie keine Merkmale oder gesundheitliche Schaden hinterlie?.

Die rechtliche Situation im foderalen Deutschland war lange umstritten.

Zuchtigung und Korperverletzung

Dazu, wie die Frage der Zuchtigung durch Lehrkrafte auf Bundesebene verhandelt wurde, gibt eine Drucksache des Deutschen Bundestages von Marz 1975 Auskunft. Auf Anfrage von Mitgliedern der Fraktionen der FDP und SPD verurteilte die sozial-liberale Bundesregierung „die korperliche Zuchtigung von Schulern durch Lehrer“. Diese stelle „nach heutigen padagogischen und psychologischen Erkenntnissen kein geeignetes Erziehungsmittel“ dar.

Zur Problematik der Zustandigkeit der Lander hei?t es in der Drucksache weiter: Die Bundesregierung begru?e „die in den einzelnen Landern getroffenen Ma?nahmen, die schon eine weitgehende Verbannung von Zuchtigungsma?nahmen an Schulen bewirkt haben.“ Die rechtliche Situation in den Landern musse jedoch in diesem Sinne noch vereinheitlicht werden, ein „Verbot von Zuchtigungsma?nahmen durch Gesetz“ auf Landerebene konne die unbefriedigende Anwendung des Gewohnheitsrechts am besten aufheben. Auch die Grenzen der Straffreiheit nach Gewohnheitsrecht wurden angesprochen. „Ubergriffe gegenuber alteren Schulern“ oder „Handlungen, die in keinem Verhaltnis zum Anla? der Zuchtigung stehen, die gesundheitsschadigend oder qualerisch sind oder die das Anstands- und Sittlichkeitsgefuhl verletzen“, seien durch kein Gewohnheitsrecht zu entschuldigen.

In diesen Fallen ging die Rechtsprechung von Korperverletzung aus. Diese war laut Strafgesetzbuch immer schon verboten, sei es in Familie, Schule, Internat oder Chorgruppe. Diesen gravierenden Unterschied gilt es im Auge zu behalten.

„Korperliche Zuchtigung ist nicht zulassig“

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang die Schilderung der Rechtslage aus bayerischer Sicht, die die zustandigen Ministerien seinerzeit fur die Bundesregierung zusammengefasst hat. Demnach seien an bayerischen Gymnasien „die korperliche Zuchtigung seit dem Jahr 1903 unzulassig“, an Realschulen seit ihrer Grundung und an Volkschulen durch die Landesschulordnung vom 1. August 1970. In der „Allgemeinen Schulordnung“ von Oktober 1973 sei dies nochmals fur alle Schularten bekraftigt worden: „insbesondere korperliche Strafen, … sind nicht zulassig.“

Eine Achtung der Zuchtigung durch Gesetz, wie von der Bundesregierung angeregt, verzogerte man in Bayern. Erst im Jahre 1983 sorgte auch Bayern, als eines der letzten Bundeslander, mit einem gesetzlichen Verbot der Zuchtigung fur die bundesweite Vereinheitlichung. Das Bayerische Gesetz uber das Erziehungs- und Unterrichtswesen (BayEUG) von 1983 fuhrte zu rechtlicher Klarheit und ermoglichte eine gerichtliche Ahndung. Darin hei? es: „Korperliche Zuchtigung ist nicht zulassig.“

Ein uber Jahrhunderte angewandter zentraler Bestandteil der christlichen Erziehung wurde somit vom Gesetzgeber verboten. Den langen steinigen Weg dahin hat der emeritierte Erlanger Padagogikprofessor Max Liedtke in seiner Studie uber den Windsbacher Knabenchor von 2011 nachgezeichnet.

Christliche Erziehung hei?t Ausrotten und Ertoten

In der christlichen Geschichte dominierte Liedtke zufolge fast zwei Jahrtausende lang „der Traditionsstrang, in dem die korperliche Zuchtigung der Kinder religios legitimiert, wenn nicht sogar empfohlen wurde bzw. wird.“ Neben dem christlichen Gebot der Nachstenliebe sei die kirchliche gepragte Schul- und Erziehungsgeschichte durch alle Epochen hindurch gekennzeichnet „von Strafandrohung, von korperlicher Zuchtigung und Angst.“.

In einem von Liedtke ausgefuhrten Beispiel wird die Notwendigkeit der korperlichen Zuchtigung damit begrundet, dass der Mensch von Natur aus nicht gut und unverdorben sei. Erziehen hei?e: „Ausrotten, Ertoten, namlich des Herzens bose Lust und an ihrer Statt eine neue heilige Kraft in demselben schaffen, einen neuen gewissen Geist ihm mitteilen, der nicht anders kann als gute Fruchte bringen“. Liedtke untersuchte mit Windsbach zwar einen evangelisch-lutherischen Chor, sieht aber im katholischen Bereich die gleichen Traditionen walten. Traditionen, die – „aus heutiger Sicht – eine verhangnisvolle Rolle gespielt“ haben.

Von Verordnungen zum gesetzlichen Verbot

Hob das 1946 erlassene Zuchtigungsverbot ein Jahr spater wieder auf: Alois Hundhammer Foto: Bundesarchiv

Die staatlichen Versuche, die Zuchtigung von Schulern durch Lehrer in Bayern zu unterbinden, reichen weit zuruck. Den ersten Anlauf datiert Liedtke auf eine Schulverordnung von 1815, als die Verwaltung des damaligen Konigreichs Bayern aufgebaut und unter franzosischem Einfluss modernisiert wurde. Dieser „leuchtende Markstein in der bayerischen Schulgeschichte“ habe sich aber nicht durchsetzen konnen. Das Verbot sei „gewohnheitsrechtlich“ unterlaufen, von christlichen Kirchen bekampft und spater (1857 unter dem als Forderer von Wissenschaft und Kunst geltenden Konig Max II.) wieder aufgehoben worden.

Weitere Versuche, die Prugelstrafe gesetzlich zu verbieten, gab es nach der Niederschlagung des NS-Regimes. Als Signal „eines humanen Neubeginns von Erziehung und Schule“ habe der bayerische Kulturminister Franz Fendt (SPD) 1946 „alle Formen der korperlichen Zuchtigung“ in Schulen verboten. Dies stie? auf Widerstand in Politik, Eltern- und Lehrerschaft. Fendts Nachfolger Alois Hundhammer, der fundamental-klerikale Monarchist der CSU, hob das Verbot schon ein Jahr spater nach einer Elternbefragung (mit uber 60 Prozent Zustimmung) wieder auf. Immer wieder beschaftigte sich der bayerische Landtag mit der Problematik. Die christlich-sozial dominierte Staatsregierung und der Bayerische Lehrer- und Lehrerinnenverband sperrten sich bis 1983 gegen ein gesetzliches Zuchtigungsverbot.

Georg Ratzinger gab in einem Interview von 2010 mit seinem Schuler Karl Birkenseer an, aus Frust, aber mit schlechtem Gewissen, seine leistungsverweigernden Zoglinge geschlagen und sich spater an ebendieses Verbot „striktissime“ gehalten zu haben. Folgt man dem Domkapellmeister a. D. hierbei, musste er im Grunde ein Erzbefurworter des Zuchtigungsverbots gewesen sein. Er sei namlich froh und innerlich erleichtert gewesen, „als 1980 [sic!] korperliche Zuchtigungen vom Gesetzgeber ganz verboten wurden.“ Das Verbot durch die allgemeine Schulordnung von 1973 schien ihm zu lax oder nicht ausreichend gewesen zu sein.

Doch wie war die rechtliche Situation in Privatschulen und Internaten, wo (sich) Ratzinger bis zur Verabschiedung des Gesetzes mit einem schlechten Gewissen schlagen musste?

Internatsschulen ein rechtsfreier Raum?

Auf Anfrage erklarte das Bayerische Kultusministerium, das Bayerische Gesetz uber das Erziehungs- und Unterrichtswesen gelte nur „fur die offentlichen Schulen in Bayern, nicht jedoch fur Privatschulen“. Letztere stunden zwar unter der staatlichen Schulaufsicht, etwa hinsichtlich der „Fragen der Unterrichtsinhalte oder der Benotung“ und „der personlichen Eignung einer Lehrkraft“. Es bestehe jedoch keine Dienstaufsicht. Disziplinarma?nahmen seien grundsatzlich dem Dienstherrn nach dessen eventuellen speziellen Arbeitsrecht vorbehalten. Details regle ein moglicherweise vorhandener privatrechtlicher Schulvertrag zwischen Eltern und Internat. Ging es um korperliche Strafen, gab es also einen gewissen Graubereich, den das Internatspersonal je nach „Erziehungsstil“ interpretieren konnte.

Anders beim Tatbestand der Korperverletzung: „Soweit an privaten Schulen ein hinreichender Verdacht gegen eine Lehrkraft etwa auf Korperverletzung bekannt wird, hat die staatliche Schulaufsicht tatig zu werden.“ Die Moglichkeiten reichen von Entfernung aus der Schule bis zu „Widerruf der Unterrichtsgenehmigung der betreffenden Lehrkraft“, hei?t es aus dem Kultusministerium.

Wurde das Bayerische Kultusministerium, das lange Zeit in diversen Kuratorien der Stiftungen der Regensburger Domspatzen vertreten war, als gymnasiale Aufsichtsbehorde jemals tatig? Auf Anfrage erklarte Pressesprecher Henning Gie?en, in den vergangenen funf Jahren seien „beim bayerischen Kultusministerium zum Musikgymnasium der Domspatzen keine Hinweise auf Misshandlungen durch Lehrkrafte eingegangen“. Das Kultusministerium sei „bei seiner Ausubung der Schulaufsicht im Bereich der privaten Schulen bezuglich von Gewalthandlungen durch Lehrkrafte auf konkrete Hinweise durch Betroffene, Lehrkrafte, Schulleitung oder Strafermittler angewiesen.“

Ob die zahlreichen auch von der Diozese als Korperverletzung bewerteten Ubergriffe in der Vorschule der Domspatzen in Etterzhausen und Pielenhofen jemals bei der zustandigen Schulaufsicht der Regierung der Oberpfalz gemeldet worden waren, und diese daraufhin tatig wurde, ist derzeit noch unklar.

Nach diesem verbotsgeschichtlichen Exkurs zuruck zu der „Terror-Broschure“ und ihren Folgen.

Schuler laufen aus Angst vor Direktor Kolbeck davon

Die AUS-Broschure von 1971 hebt unter den Heimleitern Franz Kolbeck, der als Direktor fur „offenen Terror und totale Bespitzelung“ am Bischoflichen Studienseminars Am Singrun verantwortlich gewesen sein soll, besonders hervor. Sogar 17jahrige hatten damit rechnen konnen, von ihm „hochstpersonlich ‚abgefotzt‘ zu werden“. Wenn die kleinen Schuler, „die bis aufs Blut unterdruckt werden“, den „Chef sehen, laufen sie aus Angst davon“, wei? die Broschure.

Kolbeck zwinge die Schuler dreimal wochentlich in die Fruhmesse, zusatzlich in die nachmittagliche Andacht und zum Ministrieren. Der CSU-Anhanger Kolbeck habe Tagebucher seiner Zoglinge heimlich gelesen, Briefe unterschlagen, Levis-Hosen gewaltsam weggenommen und kurze seiner Ansicht nach zu lange Haare „gewaltsam mit der Schere“. Er bestimme, „was rechtens ist“. Haben die Autoren der AUS ubertrieben?

Im Zuge dieser Recherche bestatigte der ehemalige Zogling Hubert W. die gegen Kolbeck erhobenen Anschuldigungen. Mitte der 1960er habe Kolbeck, der zu jener Zeit etwa 40jahrige geistliche Direktor des Knabenseminars, ihn, den damals etwa 14jahrigen Schuler, im Speisesaal so ins Gesicht geschlagen, dass er zu Boden gegangen sei, so W. gegenuber unserer Redaktion. Der vermeintliche Anlass: Am Esstisch im Seminar wurde gesprochen. Kolbeck traf jedoch den Falschen. Gesprochen wurde namlich nebenan. Zweifelsohne stand dieses die Gesundheit sicher nicht fordernde Vorgehen des Direktors auch nach damaligen Ma?staben in keinem Verhaltnis zum Anlass und verletzte, so vorhanden, in der Regel das „Anstands- und Sittlichkeitsgefuhl“.

Kolbeck: „Ach wo ich schlage nicht!“

Wie reagierten die Verantwortlichen? Wahrend die Schulleiterin der Madchenrealschule Niedermunster angesichts der Verteilung der „Terror“-Broschure umgehend die Polizei rief, bestritten andere Direktoren die Vorwurfe oder wiegelten ab. Bischof Rudolf Graber au?erte sich nicht offentlich, ubte aber im Hintergrund Druck gegen die Macher der Broschure aus. Zeitungsleute sturzten sich auf das Thema, sogar der BILD-Reporter aus der Landeshauptstadt reiste an und berichtete. Die Mittelbayerische Zeitung zog es offenbar vor, die Angelegenheit zu ignorieren.

Am Bespiel Franz Kolbeck lasst sich exemplarisch zeigen, wie sich ein von Schulern angeprangerter Erzieher mit Hilfe einer unkritischen Berichterstattung aus der Affare zog. Im katholisch-konservativen TAGESANZEIGER vom 21.September 1971 sprach Kolbeck von einem „Machwerk“ mit Halbwahrheiten, das journalistisch gut aufgezogen sei. Der Redakteur, der damals einundzwanzigjahrige Theologiestudent Christian Feldmann (der vor kurzem entschuldigend meinte, Georg Ratzinger sei wohl nicht der Schutzpatron des Prugelpadagogen Meier gewesen) widersprach nicht, stellte keine eigenen Nachforschungen an und uberlie? Kolbeck das letzte Wort uber die Autoren der Broschure: „Ich halte diese Leute fur nicht kompetent“.

In der Zeitschrift DIE WOCHE dementierte Kolbeck die Prugelvorwurfe: „Ach wo, ich schlage nicht.“ Vielleicht einmal im Jahr, auf der Tagesordnung stehe dies nicht. Er glaube „einen Erziehungsstil zu haben, der einer Gemeinschaft mit einem bestimmten Ziel angepasst ist.“

Welcher Stil und welches Ziel? Der Artikel in DIE WOCHE hinterfragt Kolbecks Angaben nicht, ebenso wenig lasst er betroffene Schuler zu Wort kommen. Dass man sich im Jahre 1971 als Internatsdirektor mit Prugelstrafen nicht brusten konnte, war freilich auch Kolbeck bewusst. Deshalb die Chiffren „Erziehungsstil“, „Gemeinschaft“ und „Ziel“.

„Abgfotzt und ubern Haufen gschlagn“

Wenige Monate nach dem Erscheinen der „Terror“-Broschure stieg Franz Kolbeck auf und wurde zum Direktor der Domspatzen-Internate berufen, wo er bis 1975 blieb. Dort hatte er mit uber 300 Zoglingen etwa die dreifache Anzahl unter sich als Am Singrun. Im Dominternat ging es seinerzeit „drunter und druber“, der Fortbestand der Einrichtung war existenziell gefahrdet, wie eine ehemalige Fuhrungskraft vor kurzem der Redaktion von regensburg-digital schilderte. Der serielle Missbrauchstater Sturmius Wagner trieb sein Unwesen und heute will niemand etwas mitbekommen haben.

Wie verhielt sich Kolbeck im Dominternat, blieb er nach 1972 seinem „Erziehungsstil“ treu? Zwei ehemalige Internatsschuler bestatigten unabhangig voneinander, dass Kolbeck bei den „Domspatzen“ ebenso brutal und aus nichtigem Anlass zuschlug. Eines Nachmittags etwa habe der Priester Kolbeck den Schuler S. aus heiterem Himmel mit mehreren Schlagen „abgfotzt und ubern Haufen gschlagn“, weil dieser angeblich Tage vorher despektierlich uber die im Dominternat dienenden Hausmadchen gesprochen habe.

Auch in diesem Fall traf Kolbeck wohl den Falschen. Wie der mittlerweile bald 60jahrige ehemalige Domschuler M. unserer Redaktion mit bedauerndem Unterton berichtet, habe namlich er gesprochen und nicht sein geschlagener Mitschuler. Obwohl Kolbeck nicht zu den schlimmsten Schlagern gehort habe, schien er die Zuchtigung der Schuler genossen, aber nie infrage gestellt zu haben.

Diffamierung der Zuchtigungsgegner

Kolbeck war in auch in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Die Verharmlosung der Zuchtigung und die Diffamierung ihrer Gegner reichen bis in die heutige Zeit. Der letzte Direktor des Bischoflichen Studienseminars Westmunster Christian Vieracker etwa mokiert sich in seiner Arbeit von 1999 uber die Geschichte des Seminars uber die „Terror“-Broschure.

Die von au?en herangetragenen „Anfeindungen“ seien zum Teil von ehemaligen Schulern geschurt worden. Statt sich mit der Kritik an Westmunster auseinanderzusetzen, stellt Vieracker, selber ein Westmunsterer, die Autoren in die Terroristenecke: „Wes Geistes Kind dieses Produkt war“, erkenne man an der Wortwahl und an der Literaturliste, die „unter anderem eine Buchempfehlung fur eine Veroffentlichung Marie-Ulrike Meinhofs und des Sozialistischen Buros Offenbach“ beinhalte.

Wie alle anderen Bischoflichen Seminare wurde auch das Westmunsterseminar nach einem in den 1980ern beginnenden rapiden Ruckgang der Schulerzahlen geschlossen. Nach dem Veto des diozesanen Kirchsteuerausschusses wurde der Betrieb 1999 aufgrund des zu hohen Defizits eingestellt. Um die Opfer von Zuchtigung und Korperverletzung am Westmunsterseminar scherte sich bislang kein Kirchenoberer etwas. Vieracker wechselte 2001 zu den Domspatzen, wo er heute stellvertretender Internatsdirektor und Leiter der Unterstufe ist. Als Aufklarer von korperlichen und sexuellen Ubergriffen hat er sich auch dort bisher keinen Namen gemacht.

Versto? gegen christliche Padagogik?

Wird Voderholzer auch die Aufklarung uber die Dospatzen hinaus angehen? Foto: Archiv/ Staudinger

Kurz bevor das Knabenseminar Westmunster geschlossen wurde, feierte das Gymnasium der Domspatzen 50jahriges Bestehen. In der damaligen Festschrift von 1998 blickte Georg Ratzinger auf das Werk des 1992 verstorbenen Gewalttaters und Direktor der Domspatzenvorschulen in Etterzhausen und Pielenhofen Johann Meier zuruck. Ratzinger wurdigte dessen Leistung und bedauerte, dass Meiers „Erziehungsstil in der modernen Zeit nicht mehr verstanden wurde.“ Ratzinger irrlichterte an dieser Stelle. Es ging nicht um „Verstehen“. Meiers Praxis war langst schon verboten, als er noch viele Jahrgange von Dritt- und Viertklasslern demutigte und korperverletzend abstrafte. Meier und Ratzinger konnten sich allerdings im Einklang mit einer jahrhundertealten christlichen Erziehungstradition sehen, die auf Zuchtigung und Korperverletzung baute.

Diese langjahrige Praxis in kirchlichen Einrichtungen verstie? also nicht gegen „alle Grundsatze einer christlichen Padagogik“, wie der von der Diozese beauftragte Rechtsanwalt Dr. Andreas Scheulen in seiner rechtlichen Wurdigung der Vorfalle als Korperverletzung von Februar 2015 meint.

Wie ernst es Bischof Vorderholzer mit seiner generellen Bewertung von Zuchtigung als Korperverletzung gemeint hat, wird sich an der Anerkennungspraxis der Diozese gegenuber den „Gewaltopfern“ erst noch zeigen mussen. Am Umgang mit jenen, die im „Terrorsystem“ litten und sich derzeit bei Sonderermittler Ulrich Weber melden wollen und auch konnen.

Voderholzer ist jedoch nicht nur dafur verantwortlich, dass die Ubergriffe in den Hausern der Domspatzen aufgeklart werden, sondern in allen kirchlichen Einrichtungen seiner Diozese. Ein fehlendes „Anstands- und Sittlichkeitsgefuhl“ hat die einstigen Ubergriffe zumindest geduldet und vertuscht, ein entwickeltes musste die Aufklarung aller Ubergriffe gebieten.

Die „Terror“-Broschure hat hierfur wertvolle Vorarbeit geleistet.

 

 

 

 

 




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