| Keine Toleranz Dem Missbrauch
By Anna Sophia Hofmeister
Die Tagespost
May 2, 2016
http://www.die-tagespost.de/politik/Leitartikel-Keine-Toleranz-dem-Missbrauch;art315,169178
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Anna Sophia Hofmeister. Foto: DT
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Papst Franziskus sprach frei, als er harte Strafen fur Missbrauchstater forderte. Beim Mittagsgebet Regina Coeli am Sonntag bezeichnete er den sexuellen Missbrauch von Kindern als „Tragodie“. „Wir durfen diese Missbrauche nicht tolerieren!“, rief er dann in das Mikrofon: „Wir mussen die Minderjahrigen schutzen und die Missbrauchstater streng bestrafen.“
In der Tat. Die Zahlen sind erschreckend. Allein in Deutschland sind neuen Schatzungen zufolge mehr als eine Million Kinder von sexueller Gewalt betroffen. Die enorme gesellschaftliche Dimension von sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen bestatigt sich auch im internationalen Vergleich. Missbrauch findet uberall statt. Vor allem in der Familie, in der Nachbarschaft, in Institutionen, durch digitale Medien. Auch in Fluchtlingsunterkunften oder durch organisierte Kriminalitat. Nationale und internationale Hell- und Dunkelfeldstudien zeigen eine immens hohe Zahl an Betroffenen – in der Regel sind Madchen haufiger als Jungen Opfer von ubergriffigen Handlungen. Studien, die gleichzeitig mehrere Formen von Kindesmisshandlung erfassen, zeigen au?erdem, dass sexuelle Gewalt kein isoliertes Phanomen ist, sondern die Betroffenen oft gleichzeitig verschiedenen Formen physischer und psychischer Gewalt, Vernachlassigung und Traumatisierung ausgesetzt sind, und zwar weltweit.
Die Folgen sind oft schwerwiegend, auch noch im Erwachsenenalter. Betroffene leiden unter komplexen Traumafolgestorungen: Depressionen, Suizidgedanken, Essstorungen, Beziehungsunfahigkeit, Dissoziationen und Flashbacks. Dies schlie?t sie von einem geordneten Leben aus, insbesondere, wenn Hilfsangebote fehlen. Manche der Opfer werden selbst zum Tater.
Einzelne Skandale machen das Ausma? des Leids infolge von sexuellem Missbrauch immer wieder erkennbar, aber oft werden daraus nicht die erforderlichen Konsequenzen gezogen. Das Problem ist, dass sexueller Missbrauch trotz punktuell aufflammender Medienoffentlichkeit noch immer haufig als Randerscheinung und nicht als gesamtgesellschaftliche Aufgabe wahrgenommen wird. Hinzu kommt, dass, je schwerwiegender eine Missbrauchstat ist, das Risiko steigt, dass sie generell verborgen bleibt. Experten schlie?en daraus, dass das Ausma? sexuellen Missbrauchs in der Wahrnehmung der Institutionen nicht ankommt. Falle wie die des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Sebastian Edathy, der wegen Besitzes kinderpornografischen Materials nach vielen Unregelma?igkeiten im Verfahren, ohne verurteilt zu werden, mit einer Zahlung von 5 000 Euro davonkam, offenbaren aber auch, wie weit ein fragwurdiger Umgang mit dem Thema bis in Spitzenpositionen von Institutionen reicht.
Es ist wichtig, dass die Gesellschaft das Ausma? sexuellen Missbrauchs verstehen lernt, um entsprechende Schutzma?nahmen endlich flachendeckend zu gelebtem Alltag werden zu lassen. Es braucht mehr Aufarbeitung und Forschung. Solches ist nur moglich, wenn die Sensibilitat fur dieses Thema wachst. Der Papst betont mit seinen Worten vom Sonntag die Null-Toleranz-Linie, die sein Vorganger in der Kirche bereits angesto?en hat. Und er fordert damit auch: Was die Institution unter auch schmerzhaften Erfahrungen bislang erreicht hat, dahinter darf sie keinesfalls zuruckfallen.
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