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Noch Lange Kein Schlussstrich

taz
January 30, 2015

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Matthias Katsch vom „Eckigen Tisch“ vor einem Gebaude des Canisius-Kollegs.

BERLIN dpa | Es ist ein Zufall, der den Stein ins Rollen bringt: ein unerwartetes Wiedersehen mit einem ehemaligen Pater des Berliner Canisius-Kollegs, einer Jesuitenschule. Matthias Katsch hat dort vor mehr als 30 Jahren Abitur gemacht. 2005 steht er auf einem Kongress jenem Mann gegenuber, der in den 70er-Jahren Beichtgesprache fur sexuellen Missbrauch nutzte. „Ich war wie gelahmt“, erinnert er sich. „Ich war wieder 13.“

Doch dieses Ohnmachtsgefuhl will Katsch nicht langer hinnehmen. Mit Anfang 40 schreibt er einen Brief an die Missbrauchsbeauftragte des Jesuitenordens. Die Folgen erschuttern die deutsche Gesellschaft.

Ende Januar 2010 informiert Klaus Mertes als Rektor des Canisius-Kollegs mehr als 600 Absolventen uber die jahrelangen systematischen Ubergriffe an ihrer Schule. Mertes macht damit offentlich, dass sein Orden Missbrauch vertuschte und verschwieg. Das ist der Anfang. Wie in einem Dominoeffekt offenbaren sich Betroffene aus anderen Ordensschulen, bei den Regensburger Domspatzen, auch aus der weltlichen Odenwaldschule und vielen anderen Einrichtungen.

„Das war eine Art Urknall“, sagt Johannes-Wilhelm Rorig, Unabhangiger Beauftragter fur Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs beim Bund. Doch warum knallt es erst 2010 - und hat das die Gesellschaft nur erschuttert oder auch verandert? Darauf gibt es keine einfachen Antworten. Doch eine Veranderung sieht Rorig ganz deutlich: „Den Betroffenen wird geglaubt.“

Nicht nur eine Krise der Kirche

Mehr als eine Millionen Menschen in Deutschland haben nach Schatzungen sexuellen Missbrauch erlebt. „Aber erst im Jahr 2010 ist der Bevolkerung dieses riesige Ausma? klargeworden“, urteilt Rorig. Klar wird auch: Dies ist nicht allein eine Krise der katholischen Kirche. Missbrauch geschieht uberall, vor allem in den Familien.

Funf Jahre nach dem „Urknall“ kann Rorig kaum zur Beruhigung beitragen. „Wir haben den Missbrauch nicht eingedammt.“ Das Wissen, wie Kinder besser vor sexualisierter Gewalt geschutzt werden konnen, sei zwar vorhanden. Doch ein umfassendes Schutzkonzept sieht Rorig in Deutschland noch nicht, allenfalls erste Bausteine. Ihm fehlt auch noch komplett die Aufarbeitung von Missbrauch in Familien. Noch immer gebe es keine Anhorungsstelle dafur. „Die Politik wird auch in funf Jahren noch keinen Schlussstrich ziehen konnen.“

Matthias Katsch (51) ist niemand, der als „Opfer“ gesehen werden mochte. Der studierte Philosoph und Betriebswirt arbeitet als Unternehmensberater. Im Ehrenamt ist er Sprecher des „Eckigen Tischs“, den Manner gegrundet haben, die fruher an deutschen Jesuitenschulen missbraucht wurden. Katsch arbeitet auch in Rorigs Betroffenen-Gremien mit. „Dass sich das Thema Missbrauch bis heute in dieser Dimension halt, sehe ich positiv“, sagt er. „Da ist wirklich langfristig ein Tabu gebrochen und Sprachlosigkeit uberwunden worden.“

Doch das allein hilft Betroffenen noch nicht. Die seelischen Folgen von Missbrauch lassen sich nicht in Statistiken pressen. Oft geht es um Ohnmachts- und Schuldgefuhle, Vertrauensverlust und Wut. Das Unverstandnis reicht bis hinein in die eigenen Familien. Es kann Schwierigkeiten und Unsicherheiten geben bei Partnerwahl und in der Partnerschaft. Es kann zu Depressionen kommen, zur Sucht, zum Suizid.

Projekt „Kein Tater werden“

In Berlin gibt es einen kleinen Seismographen fur den Stellenwert des Themas sexueller Missbrauch: das Projekt „Kein Tater werden“ an der Charite. 2005 begannen der Sexualwissenschaftler Klaus Beier und sein Team mit dem Versuch, Manner mit padophilen Neigungen mit Plakaten und TV-Spots fur praventive Therapien zu gewinnen. Einzige Bedingung: Sie haben noch keine Straftaten begangen und im Moment auch keine Bewahrungsauflagen.

Die Politik habe sich damals nicht offensiv vor dieses Projekt stellen wollen, sagt Sprecher Jens Wagner. Ohne das Geld von Stiftungen hatte es nicht starten konnen. Heute haben sich in Berlin mehr als 2.000 Hilfesuchende gemeldet. Das Bundesfamilien- und auch das Justizministerium unterstutzen „Kein Tater werden“ finanziell. Andere deutsche Stadte haben nachgezogen.

Matthias Katsch kann heute analysieren, dass das damals am Canisius-Kolleg eine Mischung aus Sexualitat, Macht und Gewalt war. Er wei?, dass zu seiner Schulzeit zwei Patres ihre Umgebung manipuliert haben, so lange, bis niemand mehr genau hinsah. Und dass solche Muster fortbestehen konnen, uberall, wenn es keine Schutzkonzepte gibt. Und selbst die sind keine Garantie.

 

 

 

 

 




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