| DAS Vertrauen in Die Religion Bleibt Fur Immer Erschuttert
By Philipp Gratzel
Artzte Zeitung
December 2, 2014
http://www.aerztezeitung.de/news/article/874639/sexueller-missbrauch-vertrauen-religion-bleibt-immer-erschuettert.html
Viele Opfer sexuellen Missbrauchs in Kirchen oder Schulen konnten ihr jahrelanges Schweigen erst vor vier Jahren brechen: Mit der Hilfe von Missbrauchs-Hotlines. Jetzt liegen erste Auswertungen vor. Doch die Forschung ist noch langst nicht am Ende.
Von Philipp Gratzel von Gratz
BERLIN. Bei der Jahrestagung der DGPPN in Berlin haben Wissenschaftler Auswertungen zweier gro?er Missbrauchs-Hotlines vorgelegt, die im Gefolge der Missbrauchsskandale am Berliner Canisius-Kolleg und an der Odenwald-Schule eingerichtet worden waren.
Ausgewertet wurden einerseits die Hotline des Unabhangigen Beauftragten der Bundesregierung (UBSKM-Hotline), andererseits die Ende 2012 eingestellte Hotline der Deutschen Bischofskonferenz.
Situationen: Beichte, Nachhilfe, Gesangsstunde
Die Daten der UBSKM-Hotline erlaubten einen gewissen Vergleich der Missbrauchsmuster und Missbrauchsfolgen bei katholischen, evangelischen und nicht-konfessionellen Institutionen, sagte Professor Jorg Fegert, Direktor der Klinik fur Kinder- und Jugendpsychiatrie am Uniklinikum Ulm.
Ausgewertet wurden rund 7000 Datensatze aus den Jahren 2010 und 2011. Dabei zeigte sich, dass die meisten der gemeldeten Missbrauchsfalle unabhangig vom Trager der Institution in den 1950er, 19 60er und 1970er Jahren stattfanden. "Seither scheint die Zahl der schwerwiegenden Missbrauchsfalle in Institutionen abzunehmen", so Fegert.
Grundsatzliche Unterschiede in den Missbrauchsmustern zwischen kirchlichen und nicht-kirchlichen Institutionen gebe es nicht, so Fegert. Typischerweise werde mit den Opfern schleichend ein Vertrauensverhaltnis aufgebaut, das dann ausgenutzt werde.
Dabei werden im jeweiligen Kontext gezielt Einzelsituationen ausgenutzt, in der Kirche etwa die Beichte, in anderen Institutionen Nachhilfestunden oder auch der Gesangsunterricht.
Auffallig sei, dass unter den Anrufern bei der staatlichen Hotline das Thema einer finanziellen Kompensation mit immerhin 37,7 Prozent deutlich haufiger angesprochen wurde, als bei der kirchlichen Hotline, bei der nur 13 Prozent der Anrufer uber Kompensationen sprechen wollten.
Mehr Vertrauen in staatliche Hotline
Dies zeige, wie wichtig eine unabhangige Aufarbeitung von Missbrauchsfallen ist, betonte Fegert. Die Betroffenen hatten bei der staatlichen Hotline offensichtlich eher das Vertrauen, dass ihre Anliegen Gehor finden.
Einige interessante Zusatzaspekte brachte der Fachverantwortliche der Hotline der Bischofskonferenz, Dr. Andreas Zimmer vom Bistum Trier, in die Diskussion. So erlauben die Daten der kirchlichen Hotline einen Vergleich zwischen Diozesen.
Dabei zeigt sich, dass der "Peak" der Missbrauchsfalle stark variiert. Er liegt in manchen Diozesen in den 40er Jahren, bei vielen in den 1950er bis 1970er Jahren, teils aber auch erst in den fruhen 1980er Jahren.
Dies spiegele die gro?e Bedeutung einzelner Tater wider sowie die Bedeutung der Bereitschaft einzelner Institutionen, Missbrauchsfallen zu tolerieren oder nicht zu tolerieren, so Zimmer. Die These, wonach Missbrauch in Institutionen vor allem eine Folge des gesellschaftlichen Klimas in den 1950er bis 1970er Jahren gewesen sei, wird dadurch zumindest relativiert.
Die Auswertung der kirchlichen Hotline zeigt auch, dass viele Missbrauchsopfer in kirchlichen Institutionen uber ihren psychischen und gesundheitlichen Schaden hinaus eine Art spirituellen Schaden davontragen. "Viele unserer Anrufer hatten ursprunglich einen sehr vitalen Zugang zur Religion", so Zimmer.
Religiositat war oft eine Art Coping-Strategie fur Probleme, bevor die sexuelle Gewalt das Vertrauen in die Religion erschutterte und diesen Coping-Weg versperrte.
Was bleibe, sei oft eine unerfullte Sehnsucht nach Religiositat und nach Sinn, die von vielen als sehr belastend empfunden werde.
Unterschiedliche Strukturen und Dynamiken
Um weitere Erkenntnisse bei der Aufarbeitung des kirchlichen Missbrauchs zuerhalten, wurde kurzlich ein interdisziplinares Forschungsprojekt neu vergeben. Projektkoordinator Professor Harald Dre?ing vom Zentralinstitut (ZI) fur Seelische Gesundheit in Mannheim gab bei der DGPPN-Jahrestagung einen Uberblick uber die geplanten Forschungsaktivitaten bis Ende 2017.
Ziel sei es vor allem, die Strukturen und Dynamiken des sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche offenzulegen. Es gehe darum, aufzuzeigen, wodurch Tatvorgange in kirchlichen Einrichtungen begunstigt werden.
Fragen, die das Projekt beantworten soll, lauten unter anderem: Gibt es typische Muster, die Missbrauch in der katholischen Kirche von anderen Formen des Missbrauchs unterscheiden? Gibt es besondere Folgen bei Missbrauch in konfessionellen Einrichtungen? Und gibt es Unterschiede zwischen Ubergriffen von Priestern und nicht ordinierten Kirchenangestellten?
Dabei sollen die Sichtweisen und Erfahrungen der Betroffenen im Vordergrund stehen. Im Vergleich zum gescheiterten Vorgangerprojekt soll das neue Projekt der Deutschen Bischofskonferenz die Erforschung des Missbrauchs in der katholischen Kirche starker interdisziplinar angehen.
Die quantitative Analyse von Personalakten, die bei dem ersten Projekt im Vordergrund gestanden habe, sei jetzt nur eines von sechs Teilen, so Dre?ing.Beginnen wollen die Wissenschaftler im Teilprojekt eins mit einer qualitativen Erfassung zur Verfugung stehender Daten anhand von Akten in den Diozesen. Es folgt eine biografische Analyse in Form von Interviews mit Betroffenen und Tatern.
Fur das Teilprojekt drei werden bundesweit Strafrechtsakten ausgewertet, um zu sehen, ob die gerichtliche Aufarbeitung von Missbrauchsfallen in Diozesen anders verlauft als bei anderen Missbrauchsfallen. Ein weiteres Teilprojekt beschaftigt sich mit Praventionsansatzen. Au?erdem ist eine Metaanalyse vorhandener Untersuchungen zum kirchlichen Missbrauch geplant.
Dre?ing betonte, dass in dem Projektvertrag mit der Bischofskonferenz und den Diozesen ausdrucklich festgehalten sei, dass alle Ergebnisse unabhangig veroffentlicht wurden. Die Ergebnisse bezogen sich aber ausschlie?lich auf Missbrauchsfalle im Verantwortungsbereich der Bischofskonferenz.
Missbrauchsfalle im Verantwortungsbereich kirchlicher Orden bleiben also au?en vor. Keinen Einfluss haben die Wissenschaftler darauf, welche Konsequenzen die Bischofskonferenz aus den Ergebnissen des Projekts zieht, so Dre?ing. Geplant sei aber, entsprechende Vorschlage zu machen.
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