Interview mit der Ex-Nonne Doris Wagner über sexuellen Missbrauch in einer katholischen „Gottesfamilie“
By Von Roland R. Ropers
Epoch Times
November 13, 2014
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Doris Wagner: "Man traut sich nicht mehr, um eine halbe Stunde Mittagsschlaf oder ein paar Minuten an der frischen Luft zu bitten. Es gibt nur noch ein Gebot: bedingungslose Selbstlosigkeit." |
Die ehemalige Nonne Doris Wagner hat in ihrem Buch „Nicht mehr ich“ ihre wahre Geschichte als junge Ordensfrau veröffentlicht. In „Menschen bei Maischberger“ war sie am Dienstagabend zu sehen. In einem Interview mit Roland R. Ropers beantwortete sie seine Fragen für die Epoch Times.
Doris Wagner kam 1983 in Ansbach/Bayern zur Welt. Sie ist in einem protestantischen Elternhaus aufgewachsen. Im Mai 1999 wurde die Familie römisch-katholisch. Nach dem Abitur studierte sie in Rom, Freiburg und Erfurt Philosophie und katholische Theologie und war neben dem Studium unter anderem als Organistin und Fremdenführerin tätig. Sie wurde Mitglied einer aus Männer und Frauen bestehenden Ordensgemeinschaft „Die geistliche Familie Das Werk“ [FSO - Familia Spiritualis Opus – www.daswerk-fso.org] und erlebte während ihrer Zeit in Rom die dramatische Dynamik von Ideologie, Manipulation und Missbrauch. Die Hölle auf Erden. Am 18. Mai 2001 hatte der damalige Kurienkardinal Joseph Ratzinger im Vatikan seine Anweisung zur Geheimhaltung von sexuellem Missbrauch verfasst: „De Delictis Gravioribus"
Im Jahr 2011 verlässt sie den Orden, ist völlig mittellos und seelisch zerstört – 28 Jahre jung. Inzwischen ist sie glücklich verheiratet und promoviert in Münster im Fach Philosophie.
DAS INTERVIEW
Roland R. Ropers: Ihre Lebensgeschichte ist berührend und erschütternd. Herzliche Gratulation zu Ihrer mutigen Veröffentlichung! In einer Ordensgemeinschaft zusammen mit Nonnen und Patres haben Sie in Rom acht Jahre lang ein irdisches Höllenleben verbracht unter dem Deckmantel abgrundtiefer Verlogenheit. Welches konkrete (Vor-)Bild wurde Ihnen von Gott und seinem Sohn Jesus Christus vermittelt? Unter welchem Namen wird die von Ihnen beschriebene „Gottesfamilie“, deren Mitglied Sie waren offiziell geführt?
Doris Wagner: Ich habe mich entschlossen, den Namen der Gemeinschaft im Buch nicht zu nennen. Dabei werde ich bleiben, auch wenn er inzwischen längst öffentlich geworden ist, denn es geht mir nicht darum, nun einen Kampf gegen diese eine Gemeinschaft zu führen. In welcher Gemeinschaft mir das alles geschehen ist, ist im Grunde zweitrangig, denn es gibt etliche Gemeinschaften, in denen so mit Mitgliedern umgegangen wird. Sie alle müssen sich dringend ändern, wenn sie sich christlich nennen wollen.
Der Gott, den ich in dieser Gemeinschaft kennengelernt habe, war ein Gott, der unendlich unter der Gottlosigkeit unserer modernen Zeit leidet, und den wir deswegen durch unsere „Sühne“ trösten mussten. Durch unsere Opfer, unsere bedingungslose Hingabe bis über die Grenzen unserer Belastbarkeit sollten wir wieder gut machen, was ihm durch die Treulosigkeit vieler Priester und Gläubigen angetan wurde. Jesus, war in erster Linie der leidende Jesus, der sich aus Liebe hat kreuzigen lassen. Er war gehorsam bis zum Kreuz – angesichts eines solchen Vorbildes ist es praktisch unmöglich, sich in irgendeiner Weise zu schonen. Man traut sich nicht mehr, um eine halbe Stunde Mittagsschlaf oder ein paar Minuten an der frischen Luft zu bitten. Es gibt nur noch ein Gebot: bedingungslose Selbstlosigkeit.
Ropers: Ex-Papst Benedikt war offenbar schon in seiner Zeit als Kurienkardinal Joseph Ratzinger lange ein Freund dieser romtreuen neuen Gemeinschaft, die alles dafür tat, dass er sich wohl fühlte, wenn er auf Besuch kam: feierliche Liturgie, schöne Musik, gutes Essen und strahlende junge Menschen. Viermal im Jahr gingen Sie in den Apostolischen Palast, um ihm etwas vorzusingen: im Advent, zur Weihnachtszeit, zur Maiandacht und zum Sommerfest (in Castel Gandolfo).
Im Mai 2010, kurz vor dem Beginn der Maiandacht, spürten Sie auf der Terrasse des Palazzo Apostolico den Wunsch, sich von der Mauer und auf den Petersplatz hinunterzustürzen. Es war die Zeit, als in Deutschland die sexuellen Missbrauchshandlungen fast täglich in den Medien thematisiert wurden. Hatten Sie damals in Ihrer Gemeinschaft darüber gesprochen? Und wie wurde dieses Drama von Ihrer Leitung kommentiert?
Doris Wagner: Es wurden Sühneanbetungsstunden gehalten. Denn der Missbrauch an den Kindern war in den Augen der Gemeinschaft primär ein Leid, das Jesus zugefügt worden war und das wir durch die Anbetung ein Stück weit wieder gut machen konnten.
Außerdem hieß es, wir müssten nun hoffen, dass die Kirche in der Öffentlichkeit nicht ganz so schlimm angegriffen werden würde. Die Medien würden übertreiben und in Wirklichkeit sei die Zahl der Opfer vergleichsweise gering. Die Fälle lägen alle schon lange zurück und sie gingen zum großen Teil auf das Konto von Priestern, die sich durch die sexuelle Revolution hatten mitreißen lassen. Außerdem wären die meisten Fälle Übergriffe an Buben gewesen, das heißt die Täter waren homosexuell. Damit waren sie ohnehin diskreditiert und die Kirche war nicht für ihr Verhalten verantwortlich zu machen. Es waren alles nur bedauerliche Einzelfälle von untreuen Priestern.
Die Opfer und deren Leid waren kein Thema. Geschweige denn die Frage, ob und wie man ihnen helfen konnte. Das Opfer war nur die Kirche, die nun von den Medien angegriffen wurde. Mich hat das damals entsetzt, weil ich ja selbst schon zum Opfer sexueller Übergriffe in der Gemeinschaft geworden war. Die Tatsache, wie damit umgegangen wurde, machte mich dermaßen verzweifelt, dass der Selbstmord mir lange Zeit als tröstender Ausweg vor Augen stand.
Ropers: Sie wurden massiv missbraucht. Wie erklären Sie sich das Verhalten Ihrer weiblichen Vorgesetzten, die offenbar die männlichen Täter in Schutz genommen hatten und Ihnen aufgrund Ihrer Familienherkunft die Schuld zusprachen?
Doris Wagner: Ich kann mir das selbst nicht wirklich erklären. Aber es ist ja typisch für patriarchalische Gesellschaften, dass sie den Frauen die Verantwortung dafür zuschreiben, wenn Männer übergriffig werden. Ich habe vor kurzem einen Bericht über yezidische Frauen gehört, die von IS-Terroristen vergewaltigt worden waren. Als sie sich befreien konnten, wollten ihre Familien nichts mehr mit ihnen zu tun haben, weil sie „ihre Ehre“ verloren hatten. Einige von diesen Frauen haben sich daraufhin das Leben genommen. Das hat mich tief erschüttert.
Auch die Kirche ist nach wie vor ein patriarchalisches System. „In jeder von uns steckt eine Eva“ sagte man uns Schwestern in der Gemeinschaft. Und „Wir Frauen haben die größere Verantwortung dafür, dass nichts passiert“. Als ich meiner Oberin sagte, dass ein Mitbruder mir nachstellt, warf sie mir vor, ich sei eine Gefahr für ihn, anstatt mir zu helfen. Offenbar konnte oder wollte sie den tatsächlichen Sachverhalt nicht sehen.
In ihrem Weltbild konnte der Priester gar nicht der Täter sein. Ich musste irgendetwas getan haben, um ihn zu provozieren. Deswegen sagte man mir später auch, nachdem er mich missbraucht hatte, ich müsste beichten, was geschehen sei. Das habe ich ja sogar getan. Mehrmals. Auch deswegen habe ich lange gebraucht bis ich das Geschehene anzeigen konnte. Ich habe mich schuldig gefühlt.
Ropers: Warum wird in einer pseudo-religiösen Kommunität das natürliche sexuelle Bedürfnis so massiv unterdrückt? Worin besteht das Ziel der Persönlichkeitsentwicklung?
Doris Wagner: Das Ziel besteht in der völligen Selbstlosigkeit. Dafür müssen alle Bedürfnisse so weit wie möglich heruntergeschraubt werden. Das Ideal ist, dass man mit allem und jedem zufrieden und glücklich ist und keine Forderungen stellt. Dass man immer und ausnahmslos „gerne dient“ und für sich selbst möglichst wenig braucht, dass man wenn nötig auf alles verzichten kann, auch auf eigene Gedanken und Gefühle, vor allem auch auf Freundschaften und Beziehungen, sei es auch nur zur eigenen Familie.
Alles, was aus einem selbst kommt, wird als tendenziell sündhaft betrachtet. Erst wenn man sich selbst ganz aufgegeben hat, wenn man ganz selbstlos geworden ist, ist man ein „gefügiges Werkzeug“ in den Händen Gottes bzw. in den Händen der Oberen und erst dann kann Gott seinen Plan mit mir verwirklichen. Aus einem anderen Blickwinkel könnte man sagen: man muss eine Marionette werden, die alles mit sich machen lässt.
Ropers: Worin sehen Sie die Verlogenheit einer ideologisch geprägten Gottesfamilie, die sich ständig auf Jesus Christus beruft?
Doris Wagner: Ich würde nicht von Verlogenheit sprechen, weil ich glaube, dass die Verantwortlichen das, was sie sagen und tun, für völlig richtig halten. Sie glauben wirklich, dass Gott so ist und dass sie im Auftrag Jesu und nach seinem Willen handeln. Sie glauben vermutlich auch, dass sie den Menschen, die sie "formen" etwas Gutes tun, dass sie sie dadurch Gott näher bringen. Dennoch sind sie natürlich verantwortlich für das Unheil, das sie anrichten. Denn sie könnten über das nachdenken, was sie tun.
Sie müssen doch einsehen, dass sie Menschen systematisch brechen, wenn sie ihre äußere und innere Freiheit so sehr einschränken. Sie könnten ihr Gottes- und Menschenbild überdenken und einsehen lernen, dass Gott ein menschenfreundlicher Gott ist, dass die Menschen, die ihnen anvertraut sind, Respekt verdienen, dass sie Bedürfnisse haben und Rechte.
Ropers: Wie stellen Sie sich die optimale Heilung Ihrer verwundeten Seele vor? Haben Sie überhaupt noch Vertrauen in Priester und Ordensleute, die sich als autorisierte Vermittler Gottes präsentieren?
Doris Wagner: Ich glaube, wenn man so etwas erlebt hat wie ich, braucht man vor allem drei Dinge unbedingt:
1. man muss erfahren, dass es Menschen gibt, die anders denken und handeln als die Oberen, Menschen, die einem glauben und einen nicht für das eigene Schicksal verantwortlich machen.
2. Man braucht Erfolgserlebnisse, vor allem die Erfahrung, dass man aus der Passivität und Unmündigkeit herauskommt und wieder aktiv wird. Dass man es schafft, wenn auch mit Hilfe, das eigene Leben wieder in die Hand zu nehmen, Geld zu verdienen, Kontakte zu knüpfen usw.
3. Man braucht die Erfahrung geliebt zu werden. Ich glaube, dass das der schönste und wirksamste Weg der Heilung ist, wenn man einem Menschen begegnet, der einen wirklich liebt. Ich hatte das Glück alle drei Erfahrungen innerhalb relativ kurzer Zeit zu machen.
Dass es mir heute so gut geht, führe ich darauf zurück und nicht zuletzt ist das auch der Grund, warum ich immer noch an Gott glauben kann. Er hat mir geholfen, dass ich so wunderbare Heilung erleben durfte.
Wenn ich heute Priestern und Ordensleuten begegne, begegne ich ihnen instinktiv mit Misstrauen. Ganz anders als früher, da war es umgekehrt. Heute müssen sie sich mein Vertrauen erst verdienen. Und immer wieder gibt es auch einzelne Priester, die das schaffen. Aber es sind wenige.
Ropers: Sehen Sie in Papst Franziskus für sich persönlich einen Hoffnungsträger?
Doris Wagner: Ich bin beeindruckt davon, wie souverän er sich der Etikette am Päpstlichen Hof entzogen hat und ich halte das für sehr wichtig. Auf diese Weise kann ein anderes Klima entstehen. Das halte ich für eine Voraussetzung dafür, dass die Kirche menschlicher werden kann. Aber ich wage es nicht, ernsthaft zu hoffen, dass sich eine solche Veränderung bis hinein in das Denken und die Praxis im Umgang mit den Menschen in der Kirche in absehbarer Zeit abzeichnet.
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