| DAS Vergessene Opfer
Frankfurter Neue Presse
May 31, 2014
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Das Thema misshandelter Heimkinder schilderte in besonders eindringlicher Weise das ZDF-Drama „Und alle haben geschwiegen“. In dieser Szene muss Luisa (Alicia von Rittberg) harteste Erziehungsma?nahmen von Schwester Ursula (Birge Schade) uber sich ergehen lassen, wahrend Schwester Clara (Anke Sevenich) tatenlos zusieht. Rittberg wurde fur ihre Rolle in dem Drama mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgesezeichnet. Foto: ZDF/Britta Kreh
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Wiesbaden.
Uber dem Tisch in der kleinen Dachwohnung von Manfred K. drangen sich an der Wand verschiedene Engelsabbildungen. „Meine Schutzengel“, sagt der 59-Jahrige. „Das sind die einzigen, zu denen ich noch Vertrauen habe.“ Die Geschichte, die der Mann danach erzahlt, macht deutlich, warum er den Glauben an die Menschen verloren hat. K. ist in seiner Kindheit von mehreren Mannern in einem katholisch gefuhrten Kinderheim sexuell missbraucht worden. Als er auf dem besten Wege war, dieses Trauma zu uberwinden, stach dem C&A-Verkaufer ein rabiater Ladendieb auf der Flucht ein Messer ins Bein.
Schwere Kindheit
Danach konnte Manfred K. nicht mehr arbeiten. Von der Erwerbsunfahigkeitsrente allein, nicht einmal 1000 Euro, kann und will er nicht leben, doch zwischen der Berufsgenossenschaft und dem hessischen Versorgungsamt wird die Verantwortung, wer wohl K. nach dessen schweren Schicksalsschlagen eine zusatzliche Opferrente zahlen musse, hin- und hergeschoben.
Der Vater, ein Schichtarbeiter bei Kalle in Wiesbaden, die Mutter plotzlich an Polio erkrankt und bald ein Pflegefall, so fuhrte Manfred K. und zwei Bruder der Lebensweg schon mit sechs Jahren ins Kinderheim. Das St.-Antoniusheim in Bahnholz, eine Einrichtung des Bistums Limburg und gefuhrt von baden-wurttembergischen Nonnen, nahm die zwei alteren der drei Jungen auf. Fur Manfred, bislang beschutzt von der Obhut der Mutter und einer liebevollen Gro?mutter, beginnt eine qualvolle Zeit, die fast acht Jahre andauern sollte.
Die Nonnen machten mit
Es waren nicht einmal die Schlage und Beschimpfungen, der Essensentzug und die harte Arbeit, die ihm in schlimmster Erinnerung geblieben sind, sondern die sexuellen Erniedrigungen. Die Nonnen, die sich einen Spa? daraus machten, ihre nackten Schutzlinge unter der Dusche an den Geschlechtsorganen so intensiv einzuseifen, bis diese eine Erektion erlebten. Und da war naturlich Pfarrer P.
Manfred K. war neun Jahre alt, als er mit einer Grippe im Krankenzimmer lag. Er sei schon auf dem Weg der Besserung gewesen, erinnert er sich heute, da kam P. zu ihm herein, schloss die Tur ab, bereitete ein Tuch aus und verkundete, er musse ihn nun zum Zwecke der endgultigen Genesung innerlich und au?erlich salben. Man muss nicht viel Phantasie haben, um sich vorzustellen, was danach passierte – und sich uber viele Jahre hinweg wiederholte. Heute ist K. seelisch gestort, er stottert, sein Schlie?muskel ist trotz mehrerer Operationen zerstort. Er muss Windeln tragen.
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So sah das St.-Antoniusheim in den 60er Jahren noch aus. Heute steht dort ein neu errichtetetes Seniorenheim. Foto: Stadtarchiv Wiesbaden
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Im Jahr 1968 machte ein „Kinderverderber“, wie es damals hie?, in Wiesbaden Schlagzeilen. Dabei hatte sich ein 28-Jahriger, als Arzt verkleidet in verschiedene Kinderheime eingeschlichen. Auch die Begegnung mit diesem „Dr. Schneider vom Stadtischen Gesundheitsamt Wiesbaden“ blieb Manfred K. nicht erspart. Immerhin schickte ein Wiesbadener Gericht den falschen Doktor dafur drei Jahre hinter Gitter. Danach verschwand Julius Z. spurlos. Seine Opfer blieben mit den Folgen zuruck.
Manfred K. kam in Therapie. Und er wurde ein ausgezeichneter Fu?baller. Mehr als 1000 Tore bei seinen verschiedenen sportlichen Stationen hat er dokumentiert. Dort suchte und fand er Kameradschaft, Anerkennung, wenn auch keine echten Freunde. „Ich bin wohl beziehungsgestort“, sagt er heute. Das steht so oder ahnlich auch in einem halben Dutzend Gutachten, die inzwischen uber ihn erstellt wurden, dazu tauchen Angaben uber Angstzustande und Alptraume auf. Zweimal hat K. bereits versucht, sich das Leben zu nehmen.
In einem Kaufhaus fand er eine Anstellung als Verkaufer. Dort seien alle sehr freundlich und verstandnisvoll gewesen, erinnert sich Manfred K. Vielleicht hatte es eine Chance gegeben, dort zumindest einen Teil seiner schlimmen Vergangenheit zu vergessen, wenn da nicht dieser Uberfall auf der Textil-Messe gewesen ware, und er sich dem Tater in den Weg stellte, der sich den Fluchtweg mit wilden Stichen freikampfte. Das Messer verletzte auch Manfred K.
Die Diagnose der Arzte sollte spater eine Retraumatisierung ergeben, ausgelost von einem erneuten Gewaltausbruch, dessen Opfer wieder einmal Manfred K. geworden war. An Arbeiten war nun nicht mehr zu denken. Das war im Januar des Jahres 2000. Danach kam er von seinen schlimmen Erinnerungen nicht mehr los. Pfarrer P., die Nonnen, „Dr. Schneider“ und der Messerstecher spukten ihm nun Tag und Nacht durch den Kopf. Und es horte nicht mehr auf.
K.s psychologischer Psychotherapeut Dr. Christopher Linden schrieb im Dezember des Jahres 2009 an das Hessische Versorgungsamt, dass sich der Zustand seines Patienten wohl erst stabilisieren konne, wenn diesem eine Anerkennung als Opfer im Sinne des Opferentschadigungsgesetzes zuteil wurde. „Herr K. konnte etwas mehr zur Ruhe kommen und seinen Alltag bewaltigen. Ein finanzieller Ausgleich kann das Erlittene nicht wieder gutmachen, wurde aber in erheblichem Ma?e seelisch wie lebenspraktisch ausgleichend wirken“, fuhrt der Gutachter darin aus.
Finanzieller Ausgleich? Es gibt wohl kaum zwei Worte, die bei Behorden plotzlich alle gut gemeinten Ansatze enden lassen. So schob das Versorgungsamt die Verantwortung fur K.s anhaltende Traumata auf den gewalttatigen Uberfall und erklarte die Berufsgenossenschaft fur zustandig, wahrend man dort den sexuellen Missbrauch des jungen Manfred K. als Ursache aller spateren seelischen Beeintrachtigungen ermittelte. Die Berater des Wei?en Rings, einer Organisation, die sich die Verfolgung der Interessen von Verbrechensopfern auf die Fahnen geschrieben hat, resignierte in diesem Gestrupp burokratischer Tricksereien.
OB Gerich will helfen
K. gab nicht auf. Er bemuhte sich um Prozesskostenhilfe fur eine Rechtsanwaltin, die nun vor dem Sozialgericht einen negativen Bescheid des Opferfonds beklagt. Er selbst schrieb weiter Briefe, in denen er auf sein Schicksal aufmerksam machte, darunter auch an die Katholische Kirche. Von dort kam zumindest ein leises Zeichen des Bedauerns. Wahrend eines mehrmonatigen Krankenhausaufenthalts hatten sich auf Manfred K.s Konto Schulden in Hohe von rund 8000 Euro angesammelt. Das Bistum Limburg glich diesen Betrag aus und schickte K. zusatzlich noch einen Laptop. Die Geldzahlung entsprach den Richtlinien der Deutschen Bischofskonferenz, die diese fur Missbrauchsopfer vorsehen, erklart der Limburger Bistumssprecher Stephan Schnelle. Eine Rente sei dort nicht vorgesehen.
Als eine regelrechte Folter empfand K. schlie?lich eine Vorladung zu einer Besprechung im Versorgungsamt, bei der ihm funf Mitarbeiter der Behorde gegenubersa?en, die ihn abwechselnd mit detaillierten Fragen traktierten. Der sensible, verletzbare Mann war am Ende. Wieder einmal.
Moglicherweise kommt nun doch bald Bewegung in den Fall K. Als der Wiesbadener Oberburgermeister Sven Gerich (SPD) von dem nun bereits jahrzehntelangen Kampf des Manfred K. um seine Anerkennung als Opfer erfuhr, sprach Gerich personlich beim Amt fur Versorgung und Soziales in der Landeshauptstadt vor. Gerich wollte klar machen, dass es nicht sein kann, wie Manfred K. einfach durch das soziale Netz fallt. Im Gesprach ist nun ein weiteres Gutachten. „Ich will doch nur meine Menschenwurde zuruck“, sagt Manfred K.
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