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„keine Barmherzigkeit Bei Missbrauch“

Frankfurter Allgemeine
April 18, 2014

http://www.faz.net/aktuell/kardinal-mueller-im-f-a-z-gespraech-keine-barmherzigkeit-bei-missbrauch-12894179.html

Primus inter Pares: Gerhard Kardinal Muller

rienkardinal Gerhard Ludwig Muller ist Prafekt der vatikanischen Kongregation fur die Glaubenslehre. Im ersten Teil seines Gesprachs mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung sprach er uber Widerstande gegen seine Aufnahme ins Kardinalskollegium, die Pius-Bruderschaft, die Befreiungstheologie und die Entweltlichung der Kirche.

Im zweiten Teil des Gesprachs warnte der fruhere Bischof von Regensburg vor einer Entwicklung, in der die Unaufloslichkeit der Ehe zu einer abstrakten Theorie wurde, die in der Praxis keine Rolle mehr spielt. Zugleich sah er sich eins mit Papst Franziskus in der Absicht, wiederverheiratet Geschiedenen „seelsorgerlich zu helfen“.

Im dritten Teil spricht er nun uber die Entschlossenheit des Vatikans, sexuelle Gewalt im Raum der Kirche nach Recht und Gesetz zu ahnden sowie uber die Katholische Kirche in Deutschland.

Wenn die Glaubenskongregation in den vergangenen Jahren in den Fokus der Offentlichkeit ruckte, dann nicht wegen der Theologie der Befreiung oder dem Umgang mit wiederverheiratet Geschiedenen, sondern wegen sexueller Ubergriffe Geistlicher auf Schutzbefohlene, die von der Kongregation bearbeitet werden. Trifft es zu, dass Papst Benedikt XVI. allein in den beiden letzten Jahren vor seinem Amtsverzicht und damit auch unter Ihrer Beteiligung etwa 300 bis 400 Geistliche aus dem Klerikerstand entlie??

Die Glaubenskongregation war nie nur fur die Glaubens- und Sittenlehre zustandig, sondern auch fur Ahndung von Delikten gegen den Glauben. In diese Kategorie fallen nicht nur die „klassischen“ Tatbestande wie Apostasie, Haresie und Schisma, sondern auch Vergehen im Bereich der Lebens- und Amtsfuhrung von Geistlichen, wie etwa die Verletzung des Beichtgeheimnisses und der Heiligkeit der Sakramente.

Von letzterem war selbst im Vatikan lange Zeit nicht die Rede.

Im letzten Jahrhundert gewann eine sonderbare Meinung die Oberhand, die Natur des Menschen habe sich grundlegend geandert, man brauche einem nur gut zuzureden, und dann handle er auch gut, ein kirchliches Strafrecht sei ein „mittelalterliches“ Relikt und mit dem Evangelium der Liebe nicht vereinbar. Niemand war mehr recht zustandig fur Delikte, die auch ein Geistlicher als Mensch begehen kann im Widerspruch zu seiner hohen Berufung, den Glaubigen ein guter Hirte in Namen Christi zu sein. Unter dem Eindruck der Vorkommnisse in den Vereinigten Staaten und in Irland betraute im Jahr 2001 Papst Johannes Paul II. die Glaubenskongregation wieder mit der gerichtlichen(!) Behandlung dieser schweren Delikte.

Warum die Glaubenskongregation und nicht eine der Obersten Gerichtshofe der Kirche, also Rota oder Apostolische Signatur?

Die Glaubenskongregation ist das oberste Apostolische Gericht in Glaubens- und Sittenfragen und Straftaten gegen die Heiligkeit der Sakramente. Der sexuelle Missbrauch von Heranwachsenden ist au?er einem Verbrechen in strafrechtlicher Hinsicht auch ein brutaler Angriff auf die Wurde eines jungen Menschen, die in der Heiligkeit Gottes begrundet ist und sie reprasentiert. Der Priester des Herrn verkundet die Liebe Gottes, die immer aufbaut und niemals zerstort.

Wie lauft ein kirchliches Strafverfahren wegen sexueller Gewalt ab?

Im Prinzip so: Zunachst befasst sich die Diozese mit solch einem Fall. in zweiter und dritter Instanz ist die Glaubenskongregation bzw. das Oberste Apostolische Tribunal, d.h. die Kardinalsversammlung bei uns, damit beschaftigt. Die Einzelheiten des Procedere ergaben sich aus den Leitlinien der Bischofskonferenzen und dem Motu proprio „Sacramentorum sanctitatis tutela“ ( 2010). Ich mochte noch erwahnen, dass die Kleriker, die in den vergangen Jahren entlassen wurden, mehrheitlich fur Vorgange zur Rechenschaft gezogen wurden, die zum Teil bis zu funf Jahrzehnten zuruckliegen. Im Verhaltnis zu ihrer Gesamtzahl in der Welt ist diese Zahl prozentual zwar klein und deshalb jede Kollektivverdachtigung gegen „die“ Priester“ eine schweres Unrecht. Im Blick auf die Opfer aber und angesichts der Verletzung ihrer Menschenwurde durch einen Diener Jesu Christi, erschuttert und beschamt diese Nachricht. Jede einzelne Straftat ist ein totales Unrecht.

Das UN-Kinderrechtskomitee stellte dem Vatikan vor einigen Wochen ein schlechtes Zeugnis uber die Achtung, die Umsetzung der Kinderschutzkonvention aus. Wie erklaren Sie sich das?

Kritische Beobachter sprachen eher von einem falschen Zeugnis. Der Heilige Stuhl als Volkerrechtssubjekt hat diese Konvention unterschrieben, um ihr noch mehr moralisches Gewicht zu geben, aber nicht um die katholische Kirche unter die Staaten einzureihen. Es ist ubrigens nicht „der Vatikan-Staat“, der die Kirche leitet, wobei die Ortskirchen wie ein Staat im Staat erscheinen mussten, der von einem fremden Souveran regiert wird. Als Burger unterstehen die Kleriker und kirchlichen Mitarbeiter dem Zivil- und Strafrecht ihres jeweiligen Staates. Ein kirchenrechtlicher Prozess steht nicht an seiner Stelle oder ersetzt ihn gar. Bei einem kanonischen Prozess auf diozesaner oder universalkirchlicher Ebene geht es um die Frage, ob eine schlimme Straftat einen Kleriker von der Weiterfuhrung seines geistlichen Amtes ausschlie?t oder ihn darin massiv einschrankt. Uber die kanonischen Sanktionen gegen den Tater hinaus ist die Zuwendung und Hilfe fur die Opfer von gro?ter Bedeutung, wofur eben die Diozesen und die Ordensgemeinschaften Sorge zu tragen haben. Der Bericht aus Genf nutzte die Gelegenheit, um der Kirche ideologische Vorstellungen aufzunotigen, die nach unserer Uberzeugung der Wurde des Kindes diametral entgegenstehen.

Auf welche ideologischen Vorstellungen beziehen Sie sich?

Es wurde so aufgefasst, dass die Kirche ihre ablehnende Haltung gegenuber der Abtreibung, also der Totung eines ungeborenen Kindes aufgeben solle, ebenso ihre Uberzeugung von der Bipolaritat und der Komplementaritat der Geschlechter und damit von Ehe und Familie als Urzelle von Kirche und Gesellschaft.

Seit mehr als zwei Jahren entwickelt ein kirchliches Zentrum fur Kinderschutz Programme, um kirchliche Mitarbeiter weltweit fur Gewalt gegenuber Minderjahrigen und Schutzbefohlenen zu sensibilisieren. Ein Fall fur die Unesco?

Zu dem bereits Gesagten ist hinzuzufugen: Nichts von all dem Positivem wird erwahnt, was konkret auf allen Ebenen der Kirche, beim Heiligen Stuhl, bei den Bischofskonferenzen, in den einzelnen Diozesen oder den Ordensgemeinschaften zum Schutz der Kinder getan wurde und wird. Dabei haben unvoreingenommene Beobachter festgestellt, dass „die“ Kirche seit 20 Jahren mehr zum Schutz der Kinder leistet als manch andere Institutionen, die sich hinter ihr wegducken.

Auch in der Kirche ging es bis vor kurzem nur um den Schutz der Institution. Die Opfer wurden oft ubersehen.

Die Leitlinien, welche die Bischofskonferenzen mit unserer Unterstutzung erarbeitet haben, legen gro?es Gewicht auf Hilfe und Zuwendung zu den Opfern. Der Paradigmenwechsel besteht im Vorrang des Opferschutzes.

Anfang Dezember gab der Erzbischof von Boston Sean Patrick Kardinal O’Malley bekannt, dass der Vatikan eine Kinderschutzkommission ins Leben rufen werde. Seit kurzem gibt es diese Kommission, die zunachst uber ihre Struktur und Aufgaben berat. Was hat es damit auf sich?

Die Kommission wird den wissenschaftlichen Sachverstand auf dem Feld des Kinderschutzes bundeln. Der Schwerpunkt ihrer Arbeit soll auf dem Thema Pravention und Hilfe fur Opfer liegen. Das Thema ist der Kindesmissbrauch weltweit und in allen Gesellschaftsschichten.

Papst Benedikt XVI. kannte in Sachen Missbrauch kein Pardon. Papst Franziskus spricht haufig von Barmherzigkeit. Lasst das auf einen Unterschied in der Bewertung sexueller Ubergriffe oder auf einen veranderten Umgang mit Tatern schlie?en?

Ich kann sagen, dass Papst Franziskus dieses Thema nicht weniger nahegeht als seinen Vorgangern. Es darf keine Barmherzigkeit fur die Tater geben zu Lasten der Gerechtigkeit fur die Opfer und ihrer Wurde. Der Tater hat einen jungen Menschen an Leib und Seele und auch in seinem Urvertrauen in Gott, unseren Vater, und die Kirche „unsere Mutter im Glauben“ schwer verletzt. Darum muss die kompromisslose Distanzierung der Kirche von Tat und Tater uber jeden Zweifel erhaben sein. Vorausgesetzt ist selbstverstandlich der klar bewiesene Tatbestand. Es wurden auch Unschuldige verdachtigt.

Vor kurzem haben die deutschen Bischofe den Munchner Erzbischof Reinhard Kardinal Marx zu ihrem Vorsitzenden gewahlt. Was ist aus Ihrer Sicht dessen Aufgabe?

Das Zweite Vatikanische Konzil sagt, dass die Bischofskonferenz eine Arbeitsgemeinschaft ist, die bestimmte lehrma?ige und disziplinarische Zustandigkeiten hat. Das betrifft uberdiozesane kirchliche wie gesamtgesellschaftliche Fragen sowie die Beziehungen zu staatlichen und offentlichen Instanzen. Der Vorsitzende einer Bischofskonferenz ist nach innen Moderator und nach au?en der Sprecher. Die Bischofskonferenz ist jedoch keine Zwischeninstanz zwischen dem Papst und den einzelnen Bischofen und Diozesen.

Wenn Sie auf die vielen Jahre zuruckblicken, in denen Sie in Deutschland Theologieprofessor und Bischof waren: Wie wurden Sie ruckblickend die Starken und die Schwachen der Kirche in Deutschland beschreiben?

Ihre Starken auf den ersten Blick sind sicher die gro?en, international tatigen Hilfswerke, die sehr viel Gutes fur die vielen Armen und Notleidenden in der Welt bewirken. Ebenso ist der Beitrag der Kirche und der Christen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Wissenschaft fur das Gemeinwohl hochst positiv zu wurdigen. Auch das Engagement der Kirche in Kindergarten und Schulen, den Organisationen der Caritas fur Kranke, Behinderte, Senioren, Migranten und Fluchtlinge hat eine gro?e Bedeutung. Obwohl es sehr viele gibt, die sich in Pastoral, Katechese und Religionsunterricht ernsthaft und hochmotiviert um die Glaubensvermittlung bemuhen, haben wir noch nicht die adaquate theoretische und praktische Antwort gefunden auf den Sakularisierungsprozess und die pluralistische Gesellschaft, in der wir ein Teil sind. Zu schnell beklagen wir, was alles nicht mehr ist und geht, ohne die Moglichkeiten zu erkennen fur eine lebendige Bezeugung des Evangeliums Christi, das nie uberholt werden kann. Die Kirche muss ihre lebendige, hoffnungsgebende Glaubensuberzeugung zuruckgewinnen, damit der religiose Kern ihres Lebens gesund bleibt. Ohne Glauben an den Gott der dreifaltigen Liebe wurden unsere guten Werke auf die Dauer ihre Leuchtkraft verlieren. „Mit Christus Brucken bauen“ zu Gott und den Menschen, das ist das Leitwort des kommenden Katholikentags in Regensburg. In treuer Verbundenheit gesagt: ein guter Wegweiser fur das Christentum in Deutschland und in der Welt!

 

 

 

 

 




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