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Christliche Hiebe

taz
March 4, 2014

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Was als strafenswert galt, lag im christlichen Ermessen des Anstaltspersonals.

BERLIN taz | „Es erinnert mich an Konzepte, die wir aus Nazi-Zeiten noch kennen und das in unseligen DDR-Zeiten fortgesetzt wurde: Bindungsfähigkeit zerstören, Strafen und Sanktionen“. So urteilte die Traumatherapeutin Michaela Huber, nachdem die taz Vorfälle in den Heimen der Haasenburg GmbH dokumentiert hatte.  

Tatsächlich reihen sich die Haasenburg-Heime ein in eine wenig rühmliche Geschichte von Erziehung nicht nur der DDR sondern auch der wirtschaftsliberal verfassten westdeutschen Bundesrepublik.

In Westdeutschland existieren in den 1960er Jahren ca. 3.000 Heime mit 200.000 Plätzen. Die Fürsorgeanstalten sind chronisch unterfinanziert, die Betreuungsgruppen zu groß, das Personal unqualifiziert und schlecht bezahlt und die Kinder in ständiger Bewegung von einem Heim zum nächsten. Kritik an diesen Zuständen trifft auf Desinteresse der Öffentlichkeit und des Staates.

Es dürfte nicht unwesentlich gewesen sein, dass fast 80 Prozent der Minderjährigen, die in die Heime eingewiesen wurden, kaum dem bürgerlichen Ideal entsprachen. Sie kamen aus unehelichen Verbindungen, entstammten Scheidungsfamilien und ärmeren Haushalten. Die meisten dieser Anstalten, etwa 80 Prozent, verantworten kirchliche Träger.

 Christliche Heimerziehung

Nahezu ungebrochen vertraten viele Erziehungsanstalten bis in die frühen 70er Jahre ein Konzept von Disziplinierung und Unterwerfung gegenüber den als „verwahrlost“ Abgestempelten. „Der Erziehungsprozess zielt darauf, dass das Verhalten, das im Heim durch totale Kontrolle, durch Strafe und Verbote erzwungen wird, mit der Zeit verinnerlicht wird“, schreibt die Journalistin Ulrike Meinhof 1969. „Als Erziehungserfolg wird die Verinnerlichung der Zwänge verbucht.“ Nirgendwo lässt sich diese schwarze Pädagogik idealtypischer beobachten als in den kirchlich organisierte Heimen. Eindrucksvoll beschrieb dies der SPIEGEL-Journalist Peter Wensierski in seinem Buch „Schläge im Namen des Herrn“ (2006). Von der Überzeugung getragen, dass Kinder böse und von der Erbsünde gezeichnet seien, zielte die christliche Erziehung darauf, diesen Makel zu korrigieren: totale Überwachung und Kontrolle, akkordähnliche Zwangsarbeit, hartes körperliches Strafregime und psychische Erniedrigung waren die christlichen Methoden der Erziehung.

Graue Kittel galten für die Mädchen noch bis in die 1970er Jahre als vorgeschriebene Anstaltskleidung. In einigen Heimen mussten die Insassen klobige Holzpantinen tragen, um „Entweichungen“ vorzubeugen. Die Haasenburg GmbH zwang später zu Holz-Cloggs. Es herrschte Redeverbot während der Arbeit, in den Speise- und Schlafsälen. Gefängniszellen nannten die frommen Schwestern und Brüder „Besinnungsräume“, heute sprechen die Befürworter strafender Pädagogik wahlweise von „Anti-Aggressionsraum“ oder „Timeout-Raum“. Als Mittel der Korrektur waren sie stets Bestandteil der Heimarchitektur.

Was als strafenswert galt, lag im christlichen Ermessen des Anstaltspersonals. Schon das Pfeifen eines Schlagers konnte zu mehrtägiger Besinnungshaft führen. Aber auch jenseits des Kerkers herrschte ein unerbittliches Repressionsregime. So listeten Lehramtspraktikanten 1971 für eine schwäbische Anstalt auf: „Zur Strafe mit nackten Beinen auf scharfkantigen Holzscheiten knien und beten; in einen Kartoffelsack stecken, zubinden und in den dunklen Keller stellen; Kniebeugen mit ausgestreckten Händen, auf denen Bibeln liegen, Schläge mit Riemen auf die Hände, sobald die Heilige Schrift herunterfällt; vor dem Teller mit erbrochenem Essen sitzen bleiben und durch wiederholte Schläge gezwungen werden, das Erbrochene vollständig aufzuessen; beim Erbrechen in die Kloschüssel den Kopf des Jugendlichen runterdrücken und abziehen“.

In den Selbstdarstellungen der Heime beruhigte man die deutschen SteuerzahlerInnen, dass sich die Anstalten weitgehend selbst finanzierten. Dass dieses Wirtschaftsmodell durch die massenhafte Zwangsarbeit von Minderjährigen am Laufen gehalten wurde, fand keine Erwähnung. Und man achtete streng darauf, dass die Kunden des christlichen Arbeitseifers die Kinder nicht zu Gesicht bekamen, die unentgeltlich Wäsche wuschen, Billigartikel fabrizierten oder Landwirtschaft betrieben. Tatsächlich trugen sich diese Heime nicht nur selbst: einige der kirchlichen Betriebe verwandelten sich in florierende Wirtschaftsunternehmen mit Millionengewinnen.

Heimkampagnein den Sechzigern

Erst die außerparlamentarische Linke stieß durch ihre Kritik und Skandalisierung die erste große Debatte über die Erziehungspraxis in den Heimen seit Bestehen der Bundesrepublik an. Das war die Zeit der sogenannten Heimkampagne, die von der studentischen Sozialpädagogischen Bewegung im Zusammenspiel mit kritischen ErziehungspraktikerInnen 1968/69 gestartet wurde. Sie verbanden Analyse und Kritik an den autoritären Erziehungsstrukturen mit spektakulären Aktionen und Interventionen in den Heimalltag einzelner Anstalten.

Die AktivistInnen nahmen die Erfahrungen derjenigen ernst, die im Heimsystem nur als rechtlose Objekte galten. Sie beriefen sich auf das Grundgesetz, das die Menschenwürde aller Menschen für unantastbar erklärt und also auch für Fürsorgezöglinge zu gelten habe. Überdies boten sie AusreißerInnen Unterschlupf an und halfen, alternative Wohn- und Ausbildungsmöglichkeiten zu organisieren. Zum ersten Mal erfuhren die Heimkinder Solidarität von außen.

Ulrike Meinhofs Radikalisierung

In ihrem Drehbuch zum Spielfilm Bambule schrieb Ulrike Meinhof: „Heimerziehung, das ist der Büttel des Systems, der Rohrstock, mit dem den proletarischen Jugendlichen eingebläut wird, dass es keinen Zweck hat, sich zu wehren.“

Die konkret-Autorin und baldige RAF-Mitbegründerin lieferte die wichtigste journalistische Kritik am bestehenden System der Heimerziehung. Seit Mitte der 60er Jahre recherchierte sie in einzelnen Heimen, rückte in Reportagen, Kolumnen und Radiofeatures das Schicksal der Heimkinder in den Vordergrund ihrer Analyse. Dank ihrer Arbeit breiteten sich die Proteste bundesweit aus.

Mit dem Drehbuch zu Bambule begab sie sich auf ihren ersten und einzigen Ausflug in die Welt des Fernsehspiels. Der Filmstoff basiert auf Meinhofs Recherchen im Eichenhof, einer geschlossenen Anstalt für „erziehungsschwierige“ Mädchen am Westberliner Stadtrand in Tegel. Am Originalschauplatz unter der Regie von Eberhard Itzenplitz gedreht, schildert Bambule aus der Perspektive dreier Mädchen den ganz normalen, von Verboten, Begrenzungen und stumpfsinniger Arbeit bestimmten Heimalltag im Jahr 1969.

Meinhofs Radikalisierung in Richtung Untergrund fällt mit den Dreharbeiten zu Bambule zusammen. In einem Brief schreibt sie: „Ich habe keine Lust mehr, ein Autor zu sein, der die Probleme der Basis, z.B. der proletarischen Jugendlichen in den Heimen, in den Überbau hievt, womit sie nur zur Schau gestellt werden, dass sich andere daran ergötzen [...]. Ich finde den Film Scheiße.“ Statt ästhetisierender Kritik fordert sie konkrete Taten: „Ändern wird sich nur etwas, wenn die Unterdrückten selbst handeln. [...] Es kommt nicht darauf an, ihnen zu zeigen, wie man es machen muss, es kommt darauf an, selbst mitzumachen.“

10 Tage vor dem geplanten Sendetermin beteiligt sie sich an der Befreiungsaktion des in Berlin inhaftierten Andreas Baader. Unter dem Vorwand, ein Buch zum Thema zu schreiben, treffen Meinhof und Baader im Institut für soziale Fragen in Dahlem zusammen und entkommen durch Waffengewalt und Sprung aus dem Fenster. Unterstützung erhalten sie auch von der ehemaligen Eichenhof-Insassin Irene Goergens.

Die ARD übt Selbstzensur, die Aufführung von Bambule findet nicht statt. Erst 1994 kann man den Film schließlich besichtigen – als historisches Fundstück auf Südwest 3.

In den 70er Jahren trägt die Sozialpädagogische Bewegung entschieden zur Verstetigung der Heimkampagnen-Kritik bei. Es ist ihr Verdienst, so der Sozialpädagoge und Heimkampagnen- Chronist Manfred Kappeler, dass der Boden für umfassendere Reformen bereitet wurde. Ehemalige Heimkinder kämpfen bis heute nicht nur mit den physischen und psychischen Folgen des kirchlichen Heimregimes. Ihnen wurde auch jede zukunftsfähige Bildung und Ausbildung verweigert. Zudem sind sie mit Rentenlücken konfrontiert, die durch die Zwangsarbeit aufgerissen wurden.

Zwar bekennen sich die christlichen Kirchen inzwischen zu ihrer moralischen Schuld. Doch die finanziellen Folgen möchten sie nur ungern tragen. Der Runde Tisch Heimerziehung, der 2009/2010 unter dem Vorsitz der Grünen Protestantin Antje Vollmer tagte, um die westdeutsche Heimgeschichte aufzuarbeiten, lehnte kollektive Entschädigungsforderungen in Form pauschaler Opferrenten ab. 

Ungleich großzügiger und unbürokratischer zeigten sich Staat und Kirche im Falle der sexuellen Missbrauchsskandale an deutschen Internaten wie der Odenwaldschule. Hier ging es vornehmlich um Kinder der Mittel- und Oberschicht.

Der Haasenburg-Fall ist als Symptom einer repressiven Wende unter neoliberalen Vorzeichen lesbar. Denn geschlossene Heimanstalten sind wieder auf dem Vormarsch und werden von WissenschaftlerInnen als tragfähiges Erziehungskonzept verkauf.

Und auch die Kirche scheint sich schon wieder fürsorglich in Stellung zu bringen. Die Nachrichtenagentur der Evangelischen Kirche epd, ließ anlässlich der taz-Berichte über die Haasenburg-Gewalt einen Rostocker Psychiater ein unerschrockenes Plädoyer für mehr geschlossene Unterbringung halten. Dass es in einer repressiven Einrichtung auch zu Verletzungen kommen könne, wolle er gar nicht ausschließen. „Das muss man sich so vorstellen, wenn auf der Straße jemand randaliert und die Polizei wird gerufen, dann kann es bei den Sicherungsmaßnahmen [...] zu Hämatomen kommen. [...] Das ist, sag ich mal, im Ernstfall eine Nebenwirkung einer Schutzmaßnahme.“ Die Kirche dürfte wissen, wovon der Mann spricht.

 




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