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Ich Wurde Im Internat St. Stephan Missbraucht

Augsburger Allgemeine
January 17, 2014

http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Komponist-Ich-wurde-im-Internat-St-Stephan-missbraucht-id24740526.html

Der in Munchen lebende Komponist Wilfried Hiller hat schwere Vorwurfe gegen zwei Benediktiner-Patres vom Gymnasium St. Stephan erhoben. Sie sollen ihn missbraucht haben.

In einem Interview unserer Zeitung spricht Wilfried Hiller erstmals offentlich von mehrfachem sexuellen Missbrauch sowie von schwerer korperlicher Zuchtigung Mitte der funfziger Jahre, als er Schuler der Institution war. Erst heute, nahezu 60 Jahre nach den Vorfallen, konne er offen daruber sprechen, weil er sie – auch kunstlerisch – verarbeitet habe. Die Namen der beiden bereits verstorbenen Beschuldigten sind unserer Redaktion bekannt.

Mit den Vorwurfen Hillers konfrontiert, erklarte der Abt von St. Stephan, Theodor Hausmann: „Wir werden uns dem stellen. Das sind wir Wilfried Hiller, dem Gymnasium und dem Kloster schuldig.“ Im Falle des von Hiller wegen schwerer korperlicher Zuchtigung beschuldigten ehemaligen Seminardirektors habe er, Abt Theodor, bereits in der Vergangenheit zweimal Vorwurfe der schweren Zuchtigung sowie korperlicher Grenzuberschreitung entgegennehmen mussen. In einem Fall sei aufgrund der Glaubwurdigkeit der Darstellung sowie als Zeichen des Respekts vor dem Opfer eine freiwillige Entschadigungssumme von 5000 Euro nach den Richtlinien der Bischofskonferenz geflossen. Eine Wiedergutmachung konne dies freilich nicht darstellen.

Wilfried Hiller, 1941 in Wei?enhorn (Landkreis Neu-Ulm) geboren, hat unter anderem zusammen mit dem Schriftsteller Michael Ende viel aufgefuhrte Musiktheater-Werke geschrieben – etwa „Der Goggolori“ (1985), „Die Jagd nach dem Schlarg“ (1988), „Das Traumfresserchen“ (1991) und „Der Rattenfanger“ (1993). Nach seinem Abitur am Augsburger Gymnasium St. Stephan studierte Hiller am ehemaligen Augsburger Leopold-Mozart-Konservatorium, dann an der Musikhochschule Munchen. Seine Kompositionslehrer waren unter anderem Carl Orff und Gunter Bialas.

Jetzt spricht Wilfried Hiller im offentlichen Interesse erstmals uber seine Augsburger Schulzeit – und schildert dabei sexuellen Missbrauch sowie Zuchtigung. Die Folgen, so gibt er zu verstehen, uberspannten als Bogen sein Leben – bis hin zu einer bilanzierenden Versohnlichkeit heute.

Alle Vertreter christlicher Kirchen werden in Ihren Stucken negativ dargestellt. Und im „Rattenfanger“ kommt ein homosexueller Abt vor. Sie waren nicht der erste Kunstler, der autobiografisches Material verwendet hatte. Ist es so?

Hiller: Ich war in meiner Kindheit lange an Lungentuberkulose erkrankt und kam in eine Kinderheilstatte in Mittelberg im Allgau. Nach meiner Heilung und Entlassung wechselte ich Anfang der 50er Jahre in das damalige Internat St. Joseph des Augsburger Gymnasiums St. Stephan. Der Schulunterricht dort war ausgezeichnet mit hervorragenden Lehrern, nur mussten naturlich die Internatsschuler bis auf die Ferien ein Schuljahr lang im Internat bleiben. Das wurde fur mich zu einer ungeheuren Belastung, die sich dann eben auch thematisch in meinen spateren Werken niederschlug. Bis zum Jahr 2004 konnte ich keine sakrale Musik schreiben.

Worin bestand konkret diese ungeheure Belastung?

Hiller: Es kam zu Ubergriffen einiger Benediktiner-Patres. Mein Religions- und Englischlehrer hielt mich wiederholt zum Beichten an, da ich es seiner Meinung nach seit langerem nicht mehr getan hatte. Er bestellte mich zu sich – unter dem Zusatz, ich solle nicht in den Beichtstuhl, sondern in seine Zelle kommen. Da konne man besser sprechen. Und dort langte er mir dann in die Hose und massierte meine Hoden so lange, bis ich ejakulierte. Danach sagte er, ich konne nun wieder gehen. Beim ersten Mal wies ich ihn noch darauf hin, dass ich ja gar nicht gebeichtet hatte – worauf er erklarte, dass das nichts mache, meine Sunden seien mir dennoch vergeben. Aber ich solle mit niemandem daruber sprechen. Bei aller Tragik hatten diese Vorgange auch ein komisches Ergebnis: In Religion bekam ich die Note Eins. Aber mit der englischen Sprache habe ich bis heute Probleme, weil ich immer an diesen Pater denken muss, wenn ich Englisch sprechen will.

Wann und wie oft fand das Geschilderte statt?

Hiller: Ich habe damals noch nicht wie spater Tagebuch gefuhrt, deswegen kann ich es nicht genau sagen, wie oft das passierte. Es war Mitte der 50er Jahre und fand rund funf- bis zehnmal statt. Noch heute traume ich gelegentlich von diesen Begebenheiten und wache schwei?gebadet auf.

Konnen Sie sagen, ob das von Ihnen Geschilderte – oder Vergleichbares – auch weiteren Internatsschulern passiert ist?

Hiller: Daruber wei? ich nichts. Mogliche andere Opfer haben ja sicherlich auch die Anweisung bekommen, daruber zu schweigen. Mein Problem war, dass ich mit niemandem daruber sprechen konnte.

Auch nicht mit Ihren Eltern?

Hiller: Mein Vater fiel 1944 im Krieg, und fur meine Mutter waren die Vertreter der katholischen Kirche unantastbar. Ich musste dieses Problem selbst losen und verarbeiten. So schrieb ich mehrere Jahre lang fur den Fasching kurze Theaterstucke. Eines davon hie?: „Die Rauber von Hiller“. Darin nahm ich unter anderem unseren Seminardirektor aufs Korn, indem ich eine Szene erfand, bei der ein Gro?fabrikant telefonisch fur seinen Sohn einen Platz im Internat von St. Stephan erbittet. Und der Seminardirektor antwortet nach anfanglicher Ablehnung: „Wie bitte – was – ach, wie frappant: Sie sind ein Gro? – Gro?fabrikant und stiften eine gro?e Spende? Ihr Sohn kommt dann in meine Hande! Naturlich ist noch Platz im Haus. (Ich schmei? halt einen andern raus.)“ Diejenigen, die damals in meinem Stuck nicht vorkamen, amusierten sich kostlich, doch der Seminardirektor revanchierte sich bei mir fur die Kritik in der folgenden Fastenzeit durch Schlage mit dem Bambusstab auf den nackten Hintern. Spater schrieb er dann noch einen Brief an meine Mutter, in dem er ihr erklarte, ich sei eine Gefahr fur alle Internatszoglinge, da ich homosexuell sei. Ich glaube, er tat dies, um prophylaktisch den Spie? umzudrehen. Dieser Seminardirektor war es auch, der meiner Mutter erklarte, ich konne froh sein, dass ich durch die Monche zur Musik gekommen sei. Er spielte damit in infamer Weise auf die Tatsache an, dass ich mich haufig ins Musikzimmer fluchtete und hinter verriegelbarer Tur ubte, wenn ich das Gefuhl hatte, es konnte wieder etwas auf mich zukommen.

Wie reagierte Ihre Mutter auf den Brief?

Hiller: Meine Mutter begriff zunachst gar nicht, was das Wort homosexuell bedeutet, und als sie es durch Erkundigung erfuhr, ma? sie dem keine Bedeutung bei.

Sie sprechen erst heute, fast 60 Jahre spater, uber all das, was passiert ist. Warum?

Hiller: Ich habe lange aus verstandlichen Grunden gerungen – und auch lange Zeit mit meiner Frau daruber gesprochen. Sie redete mir immer – auch noch auf ihrem Sterbebett – zu, dass ich die Vorfalle erzahle. Aber tatsachlich kann ich dies erst jetzt, nachdem ich die Begebenheiten musikalisch verarbeitet habe – und das ist nicht so lange her.

Die Ereignisse in Ettal 2010 haben den Druck einer Offenlegung nicht beschleunigt?

Hiller: Sie haben es nicht beschleunigt, aber die Einstellung meiner Frau bestatigt.

Sie sind aber bis heute Mitglied der katholischen Kirche. Wieso?

Hiller: Auf diese Frage habe ich schon gewartet. Mein Oratorium „Der Sohn des Zimmermanns“ (2010) gibt eine Antwort darauf. Es ist der gregorianische Gesang, den ich in St. Stephan fur ein Leben lang schatzen und lieben gelernt habe. Insofern bin ich der Kirche dankbar – aber naturlich auf eine ganz andere Weise, als es der Seminardirektor seinerzeit verstanden haben wollte. Inzwischen traf ich in Castel Gandolfo nach einer Auffuhrung meines Oratoriums „Augustinus“ auch den damaligen Papst Benedikt. Au?erdem gibt es zwei Personen der christlichen Kirchen, denen ich volles Vertrauen schenke: Pater Roman Loschinger aus dem Kloster Roggenburg und Nurnbergs Regionalbischof Stefan Ark Nitsche.

Gibt es von Ihnen trotz allem, was vorgefallen ist, so etwas wie Versohnlichkeit?

Hiller: Zunachst einmal bin ich nun all dies los. Ich fuhle mich frei. Das zu sagen, ist meine Pflicht. Versohnliche Tone habe ich im erwahnten Oratorium „Der Sohn des Zimmermanns“ am Ende in einem Epitaph angeschlagen. Dort erklingt, von allen auftretenden Choren gemeinsam gesungen, jenes „Agnus Dei“, das ich 1957 fur St. Stephan komponiert habe. Eine weitere Versohnung mit meiner Augsburger Zeit konnte in meinem nachsten Oratorium „Mirjam“ stattfinden – durch eine Musikalisierung der knotenlosenden Maria in St. Peter am Perlach.

Wilfried Hillers Frau, die Schauspielerin und Dramaturgin Elisabet Hiller-Woska, ist am 27. Marz 2013 gestorben.

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