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Der Dom, Die Spatzen Und Der Pfaff

By Wolfgang Blaschka
Kritisches-Netzwerk
July 4, 2013

http://www.kritisches-netzwerk.de/forum/vergewaltigungen-und-pruegelstrafen-bei-den-regensburger-domspatzen

Vergewaltigungen und Prugelstrafen bei den Regensburger Domspatzen

Ausgesuchte Knabenstimmen zum Engelsklang eines beruhmten Chores zu verschmelzen war das eine. Das andere war das strenge Strafregime unserer sadistischen Prafekten und Direktoren. Die meisten waren Priester. Die Gottgeweihten bewirtschafteten einen quirligen Tumpel quakender Frosche. Das waren wir. Dann neigten sie sich herab, und siehe da: Im Spiegel der Wasserflache wurden sie immer ofter zu giftigen Kroten. Wir hatten Angst vor ihnen. Manchmal wurden sie schwach und fischten im truben Gewasser. Sie, die uber uns standen, und die Rohrstocke sausen lie?en, um uns zu dirigieren und abzurichten. Und gelegentlich tauchten sie ein wie in einen Jungbrunnen. Die Opfer von damals sind heute Mitte Funfzig. Sie befinden sich immer noch im Bann ihrer fruheren Qualen.



Einen habe ich getroffen, einen Schauspieler, der im Gesprach beim Kaffeetrinken stotterte. Als ich nachfragte, wie das denn zusammengehe und woher das komme, meinte er nur lakonisch: „Domspatzen“. – „Was, Du auch?“ Und er erzahlte mir von seiner Vergewaltigung im Arbeitszimmer des Direktors in Etterzhausen: „Er legte mich vornuber auf den Schreibtisch, zog mir die Hosen herunter und fi….e mich von hinten.“ Klare Aussage. Gar nicht gestottert. Das Stottern war auch nie auf der Buhne, vor Publikum, mit vorgegebener Rolle, nicht einmal bei den Proben. Nur im normalen Leben in privaten Gesprachen, wo er nie wusste, was der nachste Moment brachte und ihm abverlangte, da wurde er ins Schlingern geraten. Eine echte Verdrehung im Verhalten, das die meisten genau andersrum an den Tag legten: Sie wurden unsicher vor gro?eren Gruppen, vor einem Auditorium, vor der Offentlichkeit.

Nein, gerade da fuhle er sich total sicher, weil unangreifbar. Eine Art Perversion. Ein anderer, im Jahrgang auch kurz vor mir, berichtete von allerhand untauglichen Versuchen, mit seinem Trauma umzugehen, es zu bearbeiten. Ein Projekt klang besonders schrag: Er knackte Opferstocke, bis er ertappt wurde, um dann bei der Hauptverhandlung vor Gericht „auspacken“ zu konnen. Die Staatsanwaltschaft nahm sein Tatmotiv, das er im Pladoyer freimutig schilderte, nicht zum Anlass, Ermittlungen gegen die „Geschadigte“ einzuleiten, sondern pladierte ungeruhrt auf zwei Jahre Knast fur Einbruchsdiebstahl wegen 50 Euro – zur Bewahrung! Seine „Verarztungen“ (Penis-Salbungen) im Regensburger Musikgymnasium beschrieb er beinahe nachsichtig: „Es war doch immerhin besser, uberhaupt von jemandem auch mal sanft angefasst zu werden in dieser kalten Internatswelt.“

Ein ehemaliger Gesangslehrer kannte noch andere Beispiele und auch die erschreckend hohe Selbstmordquote unter meinen Mitschulern: Von drei untersuchten Jahrgangen (90 bis 100 Spatzenkuken) haben sich 11 das Leben genommen – ein sattes Zehntel. Eine erschreckende Kontinuitat! Schon im Mittelalter haben sich die Abte und Bischofe und Dorfpfarrer von den Bauern den Zehnten geholt – oft genug mit Gewalt. Aber Menschenleben? Im 20. Jahrhundert?! – Verjahrt. Aber nicht vergessen!

Das Bistum Regensburg hullte sich konsequent in Schweigen – getreu der papstlichen Anordnung von 1962. – Brav! – Verlogene Verschwiegenheit war offenbar oberste Diozesanpflicht. Dabei wusste die Welt zumindest vom Ministranten-Skandal in diesem letzten aufklarungsfreien Areal einer immer noch weitgehend intakten Omerta. Ganz plotzlich haben die „Missbrauchsfalle bei der katholischen Kirche jetzt auch den weltberuhmten Regensburger Knabenchor erreicht“, wie die Abendzeitung in verquerem Deutsch zu berichten wusste. So als hatten uns die Verbrechen nicht schon damals betroffen haben konnen, als sie an uns verubt wurden. Nein, auf und uber die Domspatzen, diesen altesten Knabenchor Deutschlands, der auf eine mittelalterliche “Domprabende“ zuruckgeht, durfte nichts kommen. Das war von Alters her (zeitweise auch mit Kastraten) eine Lateinschule mit der Verpflichtung, fur die musikalische Umrahmung der feierlichen Hochamter im Dom St. Peter zu sorgen, und ist es letztlich immer noch, dieses altsprachlich-humanistische Musikgymnasium der Regensburger Domspatzen.

Ihr Ruf galt als heilig, und sie hatten engelsgleich unschuldig zu bleiben und unbefleckt zu singen. Ein Nestbeschmutzer, wer anderes behauptete! Man wollte es nicht sehen. Auch unser ehemaliger Domkapellmeister Monsignore Georg Ratzinger, der Bruder des Papstes Benedikt XVI., hat nichts gewusst, nichts gehort und nichts gesehen, vielleicht nicht sehen wollen. Er war Musiker. Heute ist er fast vollstandig blind und kann nur noch auswendig gelernte Stucke spielen auf seinem Spinett im Austragsstuberl. Er hielt sich erst ab 1980 an das Verbot der Zuchtigung – „strictissime!“ Wenn sich die vertrauten Bruder sehen, reden sie wahrscheinlich lieber privat Belangloses. Der andere schimpft gern auf Homosexuelle.

Das Domkapitel hat unter dem Druck der sich ausweitenden Skandalwelle in den Akten gekramt, und siehe da: Da waren sie doch langst schon da wie der Igel vor dem Hasen, die verstaubten Altlasten verjahrter Falle aus den 50- und 60-er Jahren. Karge Marginalien aus dem dusteren Schlund der Vergangenheit. Fu?noten der Kirchenkriminalitat. Sonst noch was? Fehlanzeige! – Regensburg hat sauber zu sein. Amen. – So geht Aufklarung bei der Kirche. Ratzfatz! Gut, dass wir daruber gesprochen haben. Jetzt ist es heraus. Mea culpa.

Die Zeitungsspalten quellen derzeit uber von einschlagigen Berichten: Schwere Sexualverbrechen an Schutzbefohlenen, zuruckgetretene Priester, Patres und Abte bei so lange wie moglich eisigem und eisernem Schweigen der Kirchenhierarchie mit ihrer internen Vertuschungs-Jurisprudenz, bekannt und beruchtigt als Glaubenskongregation, vulgo Inquisition. Vereinzelt aufbrechende Pickel wurden jahrzehnte-, jahrhundertelang als Einzelfalle abgetupft, die „Fehlbaren“ (im Gegensatz zum Papst) in Rotation weiterversetzt und so in die Anonymitat entsorgt, die klaffenden Wunden wo notig mit Schweigegeldern zugeschmiert oder mit schwarendem Gewissensdruck gepfropft. Der hervorquellende Eiter wurde in die Geheimarchive der Kurie abgelegt. Deren Hauptsorge galt seit jeher der Wahrung des Rufs ihrer Institution, die uber allen weltlichen Niederungen zu thronen hatte als unangreifbare moralische Instanz. Es muss ubel riechen in den innersten Gemauern des Kirchenstaats. Noch halt sich das angeschlagene Kirchenschiff auf den Wogen, halt unbeirrbar Kurs aufs Jenseits Richtung Ewigkeit. Brutalst mogliche Aufklarung ist jetzt angesagt. Auch dafur halt die papstliche Kurie ein institutionalisiertes Instrumentarium bereit: Die Apostolische Visitation. Sie kummert sich mehr um geistlichen Beistand fur einen „Neubeginn“ als um strafrechtliche Aufarbeitung oder gar systematische Konsequenzen. – Ist das zu glauben!? Schon wieder Neubeginn!

Nun platzen die Eiterbeulen in Serie – zuerst ausgerechnet bei den Jesuiten, der Speerspitze des Katholizismus – und was tut die Suddeutsche Zeitung? Sie druckt am 27./28. Februar einen harmlosen Einspalter: „Heimweh und Gluck – aus den Erinnerungen eines Internatsschulers“. Der liest sich wie der bemuhte Versuch, nur ja kein Nest zu beschmutzen, schon gar nicht das Spatzennest. In Etterzhausen unterhielten die Regensburger Domspatzen eine Vorschule (3. und 4. Volksschulklasse), die durchaus einer chilenischen Colonia Dignidad nicht unahnlich war. Abgeschieden und eingezaunt, auf einer Anhohe uber dem Dorf, das so unerreichbar nahe lag unter uns. Dort oben herrschte ein Gewaltregime, das heute kaum mehr vorstellbar scheint. Ein Strafkanon (5, 10 oder 15 Stockschlage wahlweise auf die Fingerkuppen oder au?en auf die Nagel, manchmal auch aufs Gesa?) wurde exekutiert fur geringste Vergehen: Schwatzen, „Tandeln“ (ich wei? bis heute nicht exakt, was damit gemeint war, obwohl ich mehrfach dafur bu?en musste), abgehetzt oder gar zu spat zur Studierzeit einzutrudeln, nicht ordentlich in der Reihe stehen. Morgens, vor der taglichen Fruhmesse in Dreierreihen, verselbstandigte sich das Prinzip der Rutenschlage zeitweise zu einem unentrinnbaren Dilemma, wie man es aus „Catch 22“ kennt: Der Letzte, der aus dem Waschraum oder vom Schlafsaal kam sich hinten anzustellen, hatte nach dem Mittagessen seine Prugel abzuholen. Es war ziemlich oft derselbe arme Kerl, der diese Arschkarte gezogen hatte. Ich wei? noch heute seine Waschenummer: 338. Sie wurde laut ausgerufen. Und dann im Chor der dazugehorige Name geraunt. Kinder konnen so grausam und herzlos sein – wie kleine Erwachsene. Wieder ein Handtuch liegen lassen, wieder die Seifenschale nicht aufgeraumt, und eben wieder zu spat! Sie hatten ihn auf dem Kieker. Er nahm’s scheinbar mit ruder Gelassenheit. – Einer musste doch der letzte sein. Davon stand in dem SZ-Artikel nichts. Dabei war’s eherner Alltagsbrauch. Sollte dieses Terror-Reglement in den 80-er Jahren bereits abgeschafft gewesen sein? Bei der langen Tradition?

Das Wort „Missbrauch“ scheint mir in diesem Zusammenhang geradezu euphemistisch. Man kann allerhand Missbrauch betreiben: Alkoholmissbrauch oder Medikamentenmissbrauch, – man kann einen Hammer missbrauchen als Mordwaffe oder sein Auto zur Amokfahrt. Aber Kindsmissbrauch? Das ist, als nennten wir Totschlag „Lebensmissbrauch“. Gabe es denn einen angemessen korrekten, strafrechtlich oder ethisch unbedenklichen „Gebrauch“ von Kindern? Nennen wir es doch beim Namen: Vergewaltigung, schwere Korperverletzung, fortgesetzte Freiheitsberaubung, Notigung etc. im Scho?e der Kirche, in einem Klima „des warmen Katholizismus“, wie Furstin Gloria von Thurn und Taxis einmal pointiert formulierte. „Der Schwarze schnaxelt gerne“: Sie meinte das rassistisch bezogen auf Afrikaner. Spatestens seit Roberto Blanco und seinem auf die CSU gemunzten Bonmot wissen wir um die Abgrunde solch unzulassiger Verallgemeinerungen: Wir sind doch alle irgendwie Schwarze. Unter der Kutte arme Seelen und Sunderlein, nicht wahr? Schwarze Schafchen sollten die ubrigen Schafe nicht beunruhigen. Selbst die verlorenen fuhrt der Hirte zuruck zu seiner Herde.

Ahnlich steht es mit der „Unzucht“, diesem antiquierten Wortgetum aus dem Katechismus. Gibt es umgekehrt eine Zucht, etwa mit Abhangigen oder Schutzbefohlenen, gegen die nichts einzuwenden ware? Nennen wir sie doch beim Namen – und diese permanente Strafandrohung, die allgegenwartige psychische Bedrangnis: Folter. Reden wir von den Verbrechen der Katholischen Kirche und ihrem System, das diese begunstigt, ja sogar hervorbringt, dem Zolibat, nicht von Verfehlungen einzelner! Ein ubergriffiger Priester ist kein „Verirrter“, sondern ein Straftater. Vielmehr ist die solcherlei „Verirrungen“ produzierende und provozierende strukturelle Gewalt zur Durchsetzung lebenslang erzwungener Asexualitat oder noch schwieriger: Enthaltsamkeit von jeglicher Sexualitat „irre“, geradezu kriminell – und mit Artikel 1 Grundgesetz (Menschenwurde) absolut nicht vereinbar. Das Hauptverbrechen, die „Kardinalsunde“ ist das Konstrukt des ausschlie?lich mannlichen Priesteramtes selbst. Auch das ist genuin unvereinbar mit dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Die Kirche ist demnach eine verfassungswidrige Organisation – bei Licht betrachtet. Sie muss also gezwungen werden, die staatlich garantierten Grundrechte auch ihren Angehorigen zu gewahren, ansonsten versto?t sie fortlaufend gegen Gesetze. Wer das in organisierter Weise gewohnheits- und gewerbsma?ig betreibt, fur den halt das Strafgesetzbuch den Begriff der kriminellen Vereinigung bereit. Das werden die Gottesdiener doch wohl nicht wirklich wollen, oder? Wahrscheinlich sind sie sich dessen gar nicht bewusst. Die Aufklarung ist ja auch gerade erst mal uber 200 Jahre her! Was sind diese zweihundert Jahre gegen ihre zweitausend!?

Der Autor dieses „Gefalligkeitsartikels“ fur das Regensburger Bistum beschreibt das Heimweh als seine gro?te Plage. Es sei ihm konzediert. Mag er es subjektiv so empfunden haben. Aber mit den Dimensionen der Brutalitat zwanzig Jahre vor seiner Domspatzenzeit hat das wenig zu tun. Es soll da kein falscher Eindruck entstehen inmitten einer Flut von Veroffentlichungen und Enthullungen, welche die Symptome eines siechen Organismus unter schmutzig-blutigen Binden zutage fordern.

Die Kirche krankt nicht an vereinzelten Furunkeln, – was da vor sich hinfault, ist die Pest, deren Atem bis ins Heute heruberhaucht. Die ohnehin mangelnden Selbstheilungskrafte der Patientin Una Sancta Cattolica werden angesichts des medizinisch ignoranten Personals wenig Wirkung entfalten, wenn es nur betet und eine letzte Olung parat halt, anstatt die zweifellos notigen harten Schnitte zu vollziehen. Doch welcher Kopf wurde sich schon selbst amputieren?! Also wird weiter gebunkert in lahmender Totenstarre. Das alte Immunsystem der Ignoranz hat versagt. Der Fall scheint aussichtslos. Nun hei?t der Therapievorschlag: „Vertrauen zuruckgewinnen“, sprich: die Angehorigen der Glaubensgemeinschaft sollen gefalligst wieder mehr glauben an den morbiden Patienten. Anstatt die Kloster und ihre Internate aufzulosen und der katholischen Kirche die Abschaffung des Zolibats abzufordern, andernfalls ihr die Lehrbefugnis zu entziehen und ihr den Umgang mit Minderjahrigen generell zu untersagen, darf sich die Todgeweihte selbst diagnostizieren und therapieren.

Dass der Autor anmerkt, im Musikgymnasium sei ihm niemand zu nahe getreten, mag ja so sein. Immerhin raumt er fur die Vorschule der Regensburger Domspatzen (zu seiner Zeit schon im benachbarten Kloster Pielenhofen) ein, dass dort Schlage verabreicht wurden – von einem „alten Pfarrer“ mit „hasslichen Handen“. War das immer noch unser ehemaliger Internatsdirektor? Auf die Hasslichkeit seiner Hande hatte ich nie geachtet. Ich erinnere nur, dass manche seiner Finger braunlich-gelb waren vom Zigarettenqualm eines Kettenrauchers (Marken: HB und Ernte 23). Ich kannte ihre Brutalitat und ihre Schlagkraft. Der Autor scheint sie nicht oft am eigenen Leib verspurt zu haben, diese hasslichen Hande, sonst taten ihm heute noch seine Finger weh beim Schreiben von solch verharmlosendem Reinwaschungs-Gewasch fur „Die Erzieher – keiner von ihnen beruhrte jemals einen Buben! ...“. Dieser generose General-Pardon wirkt umso skandaloser direkt neben einem Artikel uber sexuelle Ubergriffe in Ettal, Mindelheim, St. Ottilien, Kloster Schaftlarn und wo immer katholische Priester ihr verkorkstes Sexualleben mit Kindern, meist mit Knaben praktizierten, da sie berufsbedingt zolibatar und offiziell absolut „keusch“ zu leben hatten. Wir waren ihnen jahrgangsweise zugetriebenes „Frischfleisch“: Formbar, disziplinierbar, unentrinnbar ausgeliefert.

Direktor Meier im Speisesaal des Domspatzenheims Etterzhausen - Foto: © cz 1976

Direktor Meier hatte noch einen „zivilen“ Gehilfen als Prafekten, einen padagogisch ungebildeten ehemaligen Bergmann mit klobigen Handen, der mit seiner Familie au?erhalb des Zauns auf der Etterzhausener Anhohe wohnte und jeden Morgen ins Domspatzenheim schlenderte, manchmal frohlich pfeifend, wenn er sich neue Weidenruten geschnitten hatte auf dem Weg zur Arbeit. Das war die Ration fur die nachste Woche, die auf unseren geschundenen Gliedern zerschlagen wurden. Er brachte immer neue mit aus dem Wald, schalte sie mit seinem Taschenmesser und schnitt sie liebevoll zurecht, mit versonnenem Lacheln uber den gespitzten Lippen. Seine beiden Sohne straften ihn spater damit, dass sie zu den Jusos gingen. Seine erste Amtshandlung war, uns zu wecken, nachdem er seine Tatwerkzeuge im Spind verstaut hatte. Seine letzte Aktion war, das Licht im Schlafsaal zu loschen. Dazwischen lagen Backpfeifen und Ohrfeigen, die eher spontan kamen, aber auch das gnadenlos exerzierte Strafregime mit den Stocken, das er sich mit dem Direktor in der Priesterverkleidung redlich teilte. Beide waren jahzornig und aufbrausend. Als Meier einmal bei der taglichen Fruhmesse in der Hauskapelle kurz vor der Wandlung ein Wispern vernahm, drehte er sich ansatzlos um und schleuderte die goldene Patene, das Kulttellerchen, auf dem „der Leib unseres Herrn Jesu Christi“ in unmittelbare physische Anwesenheit herbeibeschworen werden sollte, wie einen Diskus nach hinten in Richtung des vermeintlichen Storenfrieds, der es prompt mit der scharfen Kante an die Schlafe bekam. Der betroffene Sunder reichte das liturgische Gerat anstandslos wieder nach vorn, und der Zelebrant legte die Hostie nach kurzem Abblasen wieder darauf, als sei nichts geschehen, um ungeruhrt das Sakrament der Heiligen Wandlung zu vollziehen. Und abends, nachdem alle „weltlichen“ Angestellten, Lehrer und Kuchenhilfen, Hausmeister und Prafekt daheim waren in ihren abseits gelegenen Behausungen, war er allein mit uns und sich und seinem Kreuz. Nachts drehte er vor dem Zubettgehen noch einmal seine letzte Runde, ich sah durch die offene Tur auf dem Gang seinen Glimmstengel aufgluhen. Manchmal schlurfte er in Hausschuhen auch noch durch die Schlafsale, wenn er irgendwo einen Mucks zu horen glaubte. Er wollte sicher sein, dass nur noch geschnarcht wurde. Es war sein Heim. Wahrscheinlich war er der einzige, der sich hier zuhause fuhlte.

Wohin mit den krampfhaft unterdruckten Hormonwallungen, der uberbordenden Lust, den schwulstigen Phantasien, der unbandigen Geilheit?! Wohin mit dem Bedurfnis nach Zartlichkeit und Zuwendung, nach Kussen und Kosen, wohin damit bei einem Mann, der von diesem elementaren Lebensbereich abgeschnitten war in seiner Identitat als Mensch – als Mann zumindest geistig kastriert? Hatte er je mit einer Frau oder auch mit einem Mann auf gleicher Augenhohe seine Libido ausleben konnen, zumindest ansatz- oder versuchsweise? Hatte er je die Moglichkeit und auch die Gelegenheit dazu gehabt? Oder war er von klein auf ein Sexualkruppel, ein verdorrter Eunuch, der Sex als verboten und verdammungswurdig, und daher nur mit roher Gewalt als eine Art Selbstbestrafung fur seine „sundige Schwache“ denken konnte – als Genuss und Erfullung nicht einmal vorstellbar in heimlich lustvoller Onanie? Wahrscheinlich haben sie ihm selbst dieses Privatissimum noch vermiest: „200 Schuss, und dann ist Schluss“. So wie es bei der Flak halt auch gewesen war.

Heimweh war – fur uns jedenfalls damals – das kleinere Problem, und mit einem Munzfernsprecher zu telefonieren ware au?erhalb des Denkbaren gewesen. Briefe waren es allenfalls, die da gekrakelt wurden – in lieblos gestanzten Formulierungen hingekleckst:

„Liebe Eltern, wie geht es Euch? Mir geht es gut. Das Wetter ist gut bis schon. Gestern gab es ein Gewitter, aber sonst ist es auszuhalten. In der Schule lauft alles einigerma?en mittelprachtig, aber nicht schlimm. Wir mussen flei?ig singen und Noten uben. Das Klavierspiel macht gute Fortschritte. Das Essen lasst etwas zu wunschen ubrig. Es gibt immerzu Kartoffeln in allerlei Variationen, nur sonntags mal Fleisch. Konntet ihr mir vielleicht demnachst einmal wieder ein Fresspaket schicken mit einem viertel Pfund Butter und/oder einer Mettwurst? Und vielleicht eine Tafel Schokolade? Tri-Top ist auch aus. Jetzt muss ich zur Chorstunde. Herr Erkes ist sehr nett, aber streng. Alles weitere im nachsten Brief oder wenn ich wieder zuhause bin. Lasst es Euch gut gehen bis zu den Ferien! Euer Fritzi.“ Und beinahe unverzichtbar ein „P.S.: Gru?e auch an Max, Christian und Tommi und all die andern, auch an Tante Marie naturlich“.

So oder ahnlich klangen sie fast alle, die Briefe, die man uns in unregelma?igen Abstanden befahl zu schreiben im Studiersaal. Es war mehr eine Pflichtubung fur die meisten. Es war eine schlimmere Art von Null-Kommunikation als heute beim SMSen oder Handy-Telefonieren. Es waren oberflachliche Harmlosigkeiten auf Papier, Lugen durch Fortlassung des Wesentlichen, in blauer Tinte auf Briefpapier gemalt wie fur imaginare Entlastungsakten gefertigt – zumindest als solche nutzbar. Das Wesentliche, der brennende Schmerz, die hilflose Ohnmacht, die bohrende Angst vor dem nachsten mittaglichen Strafappell nach der Postverteilung, und bei manchem nur die qualende Verzweiflung ob der Aussichtslosigkeit jeglichen Widerstands blieben tief verkapselt in unseren geschundenen Seelen und spurlos verborgen zwischen den Zeilen dieser Gefalligkeits-Post.

Wir wussten nichts Genaues, wir ahnten nur, dass wir in eine Holle geraten waren. Wir machten sie uns – so gut es nur ging in den zwei Stunden Freizeit werktags zwischen Schulunterricht und Studierzeit, vor Chorprobe und Geigen- oder Klavierubungsstunde – zum Kinderspielplatz und Freilauf-Paradies. Doch selbst die Freizeit konnten sie uns vermiesen mit Strafarbeiten. „Schreibe funfzigmal: Ich darf wahrend des Mittagessens nicht mit dem Tischnachbarn schwatzen“. Ich fand nach Jahrzehnten noch solch ein kariertes Blatt halbvoll geschrieben in einem Schulheft-Umschlag – fein sauberlich untereinander geschrieben – auf Vorrat oder einfach nie abgegeben. Das war noch die mildeste Bestrafungsform. Kostete nur die Freizeit.

Kein Wort von kindlichem Heimweh stand in den Briefen, kein Wort aber auch vor allem von jenen Dingen, die aus Kindern Knaben machen sollten, ordentliche Sanger und Chorknaben, und aus Memmen: Kleine Manner. Keinerlei „harte Fakten“, keine Gefuhle oder Empfindungen! Keine Klagen. Manchen Buben wurden diese harmlosen Lebenszeichen, die wahrend der Studierzeit unter Aufsicht des Prafekten zu schreiben waren, auch noch zensiert, d.h. also „auf Rechtschreibfehler durchgesehen“ – das war’s dann mit dem Postgeheimnis. Wahrscheinlich genau die Kandidaten, die dann irgendwann „fallig“ waren. Ein Kriminalist hatte vermutlich exakt an diesem Punkt ansetzen konnen: Wessen Briefe uberpruft wurden, der konnte moglicherweise auch Vergewaltigungs-Opfer werden oder schon geworden sein.

Schade, dass ich mich nicht mehr erinnern kann, bei wem das so war – es gab mehrere solcher „Falle“ – auch in meiner Klasse. Ein anonymer Briefkasten existierte meiner Erinnerung nach nicht. Man hatte die Briefe in adressierten Kuverts abzugeben. Ich habe meine schon immer zugeklebt, denke ich. Ich hatte sogar Briefmarken von meiner Mutter mitbekommen, die ich nie zur Ganze aufbrauchte. Pflichtbriefe zu schreiben hielt ich fur unsinnig. Daher hielt ich sie auch immer so kurz wie aussagearm, dass es knapp an der Unhoflichkeit vorbeischrammte. Und diesen inhaltsleeren Schmarrn hatten sie auch getrost lesen konnen. Haben sie ja vielleicht ohnehin – wer wei?. Zuzutrauen war ihnen fast alles an Niedertracht. Das Zutrauen einiger Zoglinge ging soweit, dass sie dem Prafekten Hansch bei einem sonntaglichen Spaziergang durch die Walder der Etterzhausener Anhohe einen selbstgepfluckten Stock vermachten, in der Hoffnung, er wurde auf dem Hinterteil anderer Buben zerdroschen. Er nahm ihn amusiert in seine Sammlung.

Die Verdrangungsmechanismen funktionierten verlasslich: Als ich – spater im Musikgymnasium in Regensburg – einmal mit einer Beule nach Hause kam zu meiner Mutter, und sich diese beim besten Willen nicht verbergen lie? unter meiner Kurzhaarfrisur, musste ich es ihr erzahlen, woher ich sie hatte. Ein Priesterseminarist, der im „Kaff“ als Prafekt arbeitete, hatte sie mir verpasst – mit dem gusseisernen Sakristeischlussel des Regensburger Doms. Ein Schlag von oben senkrecht auf den Kopf – aus irgendeiner Wutaufwallung heraus – vor dem Probenraum im Gewolbe unter der Paramentenkammer, wo wir uns gewohnlich einsangen vor dem Hochamt. Meine Mutter war entsetzt und malte sich die schlimmsten Szenarien aus, welche Schadelfraktionen da moglich gewesen waren bei einem nur etwas festeren Hieb. War aber nichts. Ich redete ihr mit Engelszungen ihr Vorhaben aus, sich zu beschweren, falls notig bis hinauf zum Bischof. Lacherlich, dachte ich. Der wurde abwiegeln. Sie hatte vielleicht ihren kleinen Triumph als Lowenmutter, ich aber hatte die Sache kunftighin tagtaglich mit dem Ubeltater auszubaden. Und uberhaupt, petzen sei unanstandig, und Muttersohnchen wollte ich auch keines sein. Es gelang mir mit Muhe, ihr die Strafanzeige auszureden und mithin die eigene Korperverletzung zu vertuschen. Heute nennt man so etwas Stockholm-Syndrom. Die Akzeptanz der Gewalt, die Internalisierung des Terrors war das schlimmste. Der Kerl hatte sich bitter geracht. Die Internatsleitung hatte mir die Holle noch hei?er gemacht. Die Polizei hatte mir kaum geglaubt. Es gab kein Entrinnen. Es gab keinen sicheren Ort. Nicht einmal zuhause bei meiner Mutter. Nicht einmal Heimweh blieb einem.

Nein, eine Privatsphare gab es nicht, au?er vielleicht in der abgesperrten Klokabine. Und selbst da lugte manchmal jemand – aus lauter Jux und Tollerei – unten durch oder oben druber. Ach, ware es doch nur das bisschen Heimweh gewesen! Es war viel, viel mehr, was uns qualte. Die Pratzen taten weh, die Arsche brannten von den Stockschlagen, die Schlafen schmerzten vom dauernden Koteletten-Zwirbeln, die Wangen gluhten von herzhaft klatschenden Ohrfeigen, nach denen man fur Minuten die Engel singen horen konnte, wenn sie treffsicher verabreicht tatsachlich das Ohr trafen, um ihrem Namen gebuhrende Ehre zu machen. Einmal hing ich mit meinem ganzen Korpergewicht – hochgezogen am Haupthaar – mehrere Zentimeter uber dem Boden, den ich mit den Fu?en nicht mehr erreichen konnte.

Strampeln tat noch mehr weh. Als ich mich instinktiv am Arm des Peinigers festzuklammern suchte, um mein Eigengewicht zu mildern, prugelte er mich brutal in Grund und Boden. Hinterher hatte ich fur einige lange Minuten einen pfeifenden Nachhall im Ohr – einen akuten Tinnitus, der sich erst mit der Zeit verlor. Das ausgerissene Haarbuschel legte am Hauptwirbel des Hinterkopfs eine kleine Tonsur frei, die mir lange geblieben ist. Das blitzende Funkeln in den Augen des Sadisten im schwarzen Anzug, der mich so zurichtete, werde ich nie vergessen. Ein Priester. Der Internatsdirektor Meier, ein ehemaliger Hitlerjunge. Es muss im Religionsunterricht gewesen sein. Ausgerechnet! Wahrscheinlich hatte ich den Beichtspiegel nicht fehlerfrei aufsagen konnen. Oder ich wusste mir das nicht zu erklaren mit der „Unkeuschheit“. Es war sein Lieblingsthema.

Teil 2

Ausgesuchte Knabenstimmen zum Engelsklang eines beruhmten Chores zu verschmelzen war das eine. Das andere war das strenge Strafregime unserer sadistischen Prafekten und Direktoren. Die meisten waren Priester. Die Gottgeweihten bewirtschafteten einen quirligen Tumpel quakender Frosche. Das waren wir. Dann neigten sie sich herab, und siehe da: Im Spiegel der Wasserflache wurden sie immer ofter zu giftigen Kroten. Wir hatten Angst vor ihnen. Manchmal wurden sie schwach und fischten im truben Gewasser. Sie, die uber uns standen, und die Rohrstocke sausen lie?en, um uns zu dirigieren und abzurichten. Und gelegentlich tauchten sie ein wie in einen Jungbrunnen. Die Opfer von damals sind heute Mitte Funfzig. Sie befinden sich immer noch im Bann ihrer fruheren Qualen. – Hier der zweite Teil des Artikels uber die Regensburger Domspatzen.

Regensburger Domturm, Turmhelm von innen - Fotos © Wolfgang Blaschka

Der kriminelle Katholik stand fur seine Generation. Es war nicht nur das Verbrechertum innerhalb der Kirche, sondern der ganzen zur Trauer unfahigen Gesellschaft im wieder aufgerusteten Westdeutschland der postfaschistischen Ara, die erst mit ’68 allmahlich zu Ende ging. Es war die Brutalitat der Kriegsgeneration, die – verroht, entmenscht und verheizt – nach mittlerweile zwanzig Jahren ihre immer noch schwelende Rache nahm an uns fur den verlorenen Krieg, fur ihre eigene gestohlene Jugend und fur all diese unglaublichen Vorwurfe wegen ihrer gigantischen Verbrechen, ihrer bodenlosen Feigheit, ihres skrupellosen Opportunismus, ihrer erbarmlichen Verlogenheit. Wo sie doch gedacht hatten, junge Helden, echte Heroen, standhafte Teutonen, kraftstrotzende Ubermenschen, arische Herrenmenschen – eben stramme Deutsche – zu sein oder sein zu mussen.

In Wirklichkeit waren sie nichts als Strandgut eines Vernichtungsfeldzuges auch gegen sich selbst. Umso schlimmer fur sie, dass ihre Tugenden allmahlich nichts mehr galten, ihr selbstverleugnender Kadavergehorsam keinen Respekt mehr genoss, „ihre Zeit“ vorbei zu gehen begann. Ihre Vorstellung von Disziplin, ihr Ordnungsgefuge, ihre Anschauungen sahen sie entwertet, ihre Autoritat fanden sie untergraben. Sie schlugen um sich, als kampften sie noch einmal und immer noch einmal um den „Endsieg“ – vergebens. Panzerfahrer Meier blieb in seinem Panzer – bis zuletzt.

Sie fuhlten sich als Opfer, und wurden – schon wieder oder immer noch – zu Tatern. Sie hatten es so beigebracht bekommen, es war ihnen eingebleut worden, sie hatten es mit der Muttermilch aufgesogen und mit jedem Sirenenalarm, bei jedem Gelandespiel und beim Fahnenappell bis ins Mark verspurt: Was uns nicht umbringt, macht uns nur harter. Einige erkannten genau darin ihre Berufung, hart zu werden. Harter noch als Kruppstahl, viel fester noch im Glauben. Nicht an sich selbst, im Glauben an die Menschheit oder an die Menschlichkeit, sondern an Gott. Gerade, wo doch nach Auschwitz kein Gott existieren konnte, mussten sie ihn suchen. Ihn, diese ultimative Autoritat nach all der Unmenschlichkeit. Seine irdische Agentur hatte das Desaster unbeschadet uberstanden, seine Niederlassungen arbeiteten unversehrt, der Apparat blieb intakt. Sie selbst waren es nicht.

Wolfgang Blaschka und seine Mitschuler der Klasse 3 in Etterzhausen

Manche von ihnen wurden zu Alkoholikern, Sadisten, Kinderschandern. Zu psychischen Wracks. Wohlgenahrte, selbstgerechte Abfallhaufen ihrer selbst. Instinktiv merkten wir das. Kein Wunder, dass wir ihnen spater nicht mit Unterwurfigkeit begegneten, sondern mit ansatzweiser Aufmupfigkeit. Je mehr sie prugelten und droschen, desto mehr verachteten wir sie. Sie waren unglaubwurdig durch und durch. Sie waren – Erwachsene! Niemals wollten wir so werden wie die: Abschaum ihres unverdauten und umso brockenhafter ausgekotzten Deutschtums, bigotte Kleriker, die Wasser predigten und Wein tranken, von Nachstenliebe sauselten und Kinder uber den Schreibtisch legten, um sie von hinten zu nehmen. Mit dem Stock oder mit dem Geigenbogen oder mit dem Schwanz, das war schon beinah einerlei. Entscheidend war die Entwurdigung – unsere wie auch die ihre. Ihre hochste Erregung fanden sie in unserer Zuchtigung. Sie straften uns zur hoheren Ehre Gottes wie zu ihrer eigenen Befriedigung, bis wir sangen, wie sie es wollten. Sie wahnten sich in ihrem paderastischen Eifer in padagogischer Mission – alles geschehe nur zu unserem Wohl. Wir wurden es ihnen spater zu danken wissen.

Es sei noch keiner umgekommen von einer harten Hand, aber viele seien zu starken Menschen erzogen worden. So mussen die Ansprachen eines Baldur von Schirach geklungen haben. So klangen sie aus dem warmen Zigarettenatem des Direktors Meier, wenn er mal philosophisch wurde, was eher selten vorkam. Manchmal fiel ihm beim angestrengten Zuschlagen die viel zu lang gegluhte Zigarettenasche auf das speckig schwarzglanzende Anzugjackett uber dem Priesterkragen und kullerte von dort auf den Boden. Er bemerkte es kaum, so sehr war er auf den Strafvollzug versessen. Und wenn ja, dann nur aus dem zusammengekniffenen Augenwinkel. Dann trat er wie beilaufig mit seinen Hausschuhen darauf, um sie zu zerstauben. „Asche zu Asche, Staub zu Staub“, so traumte ich gelernter Ministrant in solchen Situationen, um meine Gedanken zu zerstreuen, bevor ich dran kam zur Abfertigung mit Weidenrute, Bambusrohr oder ausgemustertem Violinbogen. Ich durfte mir aussuchen, ob ich au?en oder innen auf die Hand geschlagen werden wollte. Beim Wegziehen wurden das jeweils letzte Funferpack Schlage noch einmal mit verabreicht. Man konnte so auf maximal 27 Hiebe kommen, wenn man – im dummsten Fall – jedesmal beim letzten Schlag weggezogen hatte. Man zog nicht weg. Man weinte nicht. Man winselte nicht um Gnade. Sollte den Mistkerl doch der Herzinfarkt treffen, bevor er uns schwach gesehen hatte! Diese Erziehung funktionierte. Wir wurden hart. Gegen uns selbst, und auch gegeneinander. Wir sprachen einander mit Familiennamen an. Nur selten habe ich jemanden heulen gesehen.

Nichts hatte ich lieber getan als zu seiner Beerdigung zu jubilieren, aus ubervollem Herzen, wenn auch noch mit den letzten Sprei?eln in den Fingerbeugen. Allein so etwas zu denken – eine Sunde! Aber davon wusste er nichts, und ich habe es ihm auch nie gebeichtet. Er war nicht nur geschaftsfuhrender Internatsleiter, Religionslehrer und oberster Zuchtmeister – Richter und Vollstrecker in einem –, sondern auch unser Beichtvater mit violetter Stola, der alles ganz genau wissen wollte: Unkeusches getan, gesagt, angehort, angeschaut, gedacht? Allein oder zu zweien oder zu mehreren? Wo genau und wie? Mit wem? Dabei hielt er sein Bu?gesicht in ein wei?es Tuch gebeugt. Wir knieten in einem Schlafsaal einzeln nacheinander auf einem Beichtschemelchen vor ihm, der am Tisch sa?. Wir wurden nicht mit Namen angesprochen. – Als hatte er uns nicht an unseren Stimmen erkannt!

Das hatten sie schon drauf, diese Scheinheiligen. Fur zehn Vaterunser und zehn Ave-Maria gab’s dann die Absolution. Aber nur, wenn genugend offenbart wurde. Ein Mitschuler, der nur zu berichten gewusst hatte, zweimal gelogen zu haben, wurde zuruck in die Hauskapelle geschickt zur abermaligen Gewissenserforschung. Nach einer Viertelstunde trat er zum zweiten Mal zum Sakramentsempfang an und erzahlte das Blaue vom Himmel herunter, was der Priester gern horen wollte. Fur die vielen Munchhausen-Geschichten war er’s dann zufrieden, und der sundhafte Lugner bekam schlie?lich die ersehnte Lossprechung von seiner erlogenen Sunderei. Die Beichte ward zur Luge. Die Luge hatte System. Die Luge war das System. Das System Meier: „Ich bin Dein Gott und Herr. Du sollst keine anderen Gotter neben mir haben“. Das hatte ihm gefallen. Das Beichtgeheimnis war sein monopolistisches Kapital. Aber er fiel und fiel nicht tot um – nur manchmal hustelte er gepresst, wenn seine blauliche Rauchfahne ihm brennend ins Auge hinter der goldgeranderten Brille schmauchte. Die waren „zah wie Leder“, diese Schweinepriester! Und sie schlugen scheinbar emotionslos zu mit sorgsam verborgener Fleischeslust, deren zehrende Glut sie mit Kalte uberspielten, gaben sie doch nach au?en den gerecht strafenden (Uber-)Vater, der barmherzig Bu?e verabreichte.

Ich hatte fragen sollen, ob man bereits abgestrafte Vergehen noch mal beichten hatte sollen. Wahrscheinlich ware mir daraufhin kein katechetischer Diskurs, sondern die Sunde der „Hoffahrt“ angehangt worden. „Hoffartig“ zu sein war uberhaupt eines der schlimmsten. Es hei?t soviel wie anma?end, stolz, aufbegehrend. Da half nur eine Extraportion Demut. Die wurde dann eingeprugelt. Ein taglicher Sado-Maso-Salon muss das gewesen sein fur den Direktor dieses Etablissements, dessen Zogling ich war. Dass das grausame Prozedere bei hellichtem Tag etwas mit pervertierter Sexualitat zu tun haben konnte, ahnte ich freilich damals nicht. Es tat einfach nur grausam weh. Es war wie ein letztes Aufbaumen gegen den Strom der Zeit. In ihren Kopfen war immer noch Krieg und noch langst kein Frieden. So war die offizielle Au?enpolitik, und so war ihr personliches Empfinden. Bestenfalls Waffenstillstand, Nichtkrieg, solange „die Ostgebiete vom Feind besetzt“ bzw. – „z. Zt. unter polnischer/sowjetischer Verwaltung“ standen. Die Schul-Atlanten zeigten ein geteiltes „Deutschland in den Grenzen von 1937“. Andere Karten waren zum Unterricht in Bayern gar nicht zugelassen.

Die CSU war so rechts, dass sie die NPD muhelos marginalisierte. Gelungene Integration nannten sie das, lange bevor sie das Wort dann auf Migranten anzuwenden lernten, nachdem sie es jahrzehntelang als Sozialpadagogen-Geschwatz abgetan hatten. Kirche und CSU waren fast ein- und dasselbe. Vor den Bundestagswahlen wurde von den Kirchenkanzeln herab den glaubigen Schafchen in „Hirtenworten“„verkundet“, wen oder was sie zu wahlen hatten. Der Zeitgeist der fruhen 60-er Jahre bot reichlich schwarzbraunen Humus, fetten Nahrboden fur Scheinheiligkeiten aller Art. Frisch entnazifizierte Nazis allenthalben in Amt und Wurden, zu Demokraten gelauterte Klerikalfaschisten in der CSU, umgemodelte Volkische bei der CDU, auffrisierte Deutschnationale in der FDP, Nationalisten in der SPD. Alle standen mit breiten Stiefeln fest auf dem Grundgesetz herum und versicherten einander, dass man „heutzutage in einer Demokratie lebe“, die Todesstrafe aber nur solange abgeschafft bliebe, wie das Volk, also sie selbst nicht die Moglichkeit zum Plebiszit hatten. Ansonsten konne man fur nichts garantieren. Nur die Kommunisten waren vorsorglich oder nachsorglich (wie sonst europaweit nur noch im Franco-Spanien) verboten. Sie waren schlie?lich die „Hauptnutznie?er“ der Todesstrafe geworden. Da musse man schon aufpassen. Der „Iwan“ stunde sonst „binnen 48 Stunden am Rhein“.

In diesem Klima galt Gewalt gegen Frauen und Kinder als „Kavaliers“-Delikt, und Zuchtigung als des Mannes stattliche Zier, sittliche Pflicht und moralisches Vorrecht. Auch wenn die offizielle Gesetzeslage schon langst nicht mehr so war – der Common Sense bestand immer noch. „Zucht und Ordnung“ waren keine per se anruchigen Vokabeln, bei denen man unwillkurlich an Neonazis hatte denken mussen. Es gab ja genugend Altnazis. Ware einer von uns Maltratierten zur Polizei ins Dorf gegangen, hatte er ziemlich wahrscheinlich links und rechts eine geschmiert bekommen mit der vaterlichen Belehrung, sich augenblicklich zu schleichen und kunftig besser zu uberlegen, was er sage. Das sei ja doch wohl unerhort. Unglaubliche Frechheit! Solch eine unbotma?ige Aufsassigkeit! Diese Jugend heutzutage, was bildet die sich eigentlich ein?! „Ein paar saftige Watschen haben noch niemandem geschadet“. Die waren eine allgemein anerkannte Erziehungsmethode und keinesfalls ehrenruhrig – wenngleich offiziell strafbewehrt. Kaum ein Unmensch hielt sich an solch „neumodische“ Gesetze, – Kindererziehung ginge doch wohl den Staat nichts an, schlie?lich lebten wir doch „heutzutage in einer Demokratie“, oder wie?! Als ware damit gemeint: Da schlagt man seine Kinder eben selbst.

Wolfgang Blaschka und seine Mitschuler der Klasse 4 in Etterzhausen

Uns haben sie regelrecht gequalt. Wahrend die „Herren“ im Speisesaal auf einem Podest tafelten (auf einem Rollwagelchen schoben sie sich die Bratenstucke, die Knodelplatten und So?enterrinen zu) und uber das obligatorische Silentium wachten, wahrend sie sich leise unterhielten, bekamen wir unter der Woche nur bescheidene Kost, jeden Tag Kartoffeln und Erdapfel, Erdapfel und Kartoffeln – meist mehlige Pampe, seltener als Bratkartoffeln, Reiberdatschi oder Kartoffelbrei, doch regelma?ig schlichte Salzkartoffeln, dazu Fisch, selten Wurste, aber immer verkochtes Gemuse oder lieblos angemachten Blattsalat. Keinen Nachtisch normalerweise, nichts Su?es – au?er freitags Mehlspeisen. Kaum je Obst – au?er sonntags Kompott und zu Nikolaus Mandarinen. Einmal gab es Wirsing. Einer meiner Mitschuler, ein Backerssohn, mochte ihn nicht nur nicht, sondern reagierte regelrecht allergisch darauf. Er lie? das Gemuse unberuhrt auf dem Teller. Als der Direktor das von seinem erhohten Sitzplatz aus erspahte, stellte er sich neben ihn und befahl ihm aufzuessen. Der kleine Albert weigerte sich. Der Direktor packte ihn und zwang ihm die Gabel mit dem verabscheuten Essen in den Mund. Nach ein paar Schlucken ubergab er sich auf den Teller. Der Direktor zwang ihm das Erbrochene wieder und wieder in den Kropf, futterte ihn gewaltsam. Ich hatte beim Anblick dieser Pein fast selber gekotzt. Er lie? erst ab, als Paula, eine eher mutterlich wirkende Kuchenhilfe mit geknotetem Haarschopf, herbeieilte und den Teller mit der Sauerei beherzt abraumte.

An solchen Tagen wahnte ich mich in einem Kinder-KZ. Es wurde legal betrieben in der jungen Bundesrepublik, doch das Wachpersonal war noch in deren Rechtsvorganger sozialisiert worden. Die Erniedrigung, die Brechung des Willens, Gehorsamserzwingung, Entsolidarisierung, Disziplinierung und gnadenlose Abhartung waren grausiges Programm. Das Wort Demokratie klang aus dem Munde alter Nazis wie eine Totschlag-Keule. Wie die immerwahrende Drohung, dass man auch anders konne. Schon das Wort „Diskussion“ klang ihnen aufmupfig. „Demonstration“ war des Teufels – au?er die der blanken Macht. Mit derlei Kram mussten sich die Kleriker ohnehin nie herumschlagen. Ihr hochstes Gesetz war das des Vaticans, und das war das Recht des Allerhochsten – von jeher jenseits irdischer Machte.

Domspatzenheim Etterzhausen (Foto: privat)

Tatsachlich lebt die katholische Kirche bis heute mit ihrer ganz eigenen, internen Jurisdiktion, garantiert von jenem Konkordat von 1933, das Adolf Hitler mit Pacelli abgeschlossen hat, und das bis heute die staatlich organisierte Eintreibung der Kirchensteuern, die Bezahlung der Krankenhaus-Seelsorger und Militarbischofe, der Gefangnispfarrer und diverser Theologie-Professoren aus offentlicher Hand garantiert. Die Kirche darf Lehrstuhle besetzen und Schwangere beraten, die teuersten Immobilien in besten Citylagen kostenfrei und ausschlie?lich nutzen, ohne fur den Denkmalschutz zustandig zu sein. Sie betreibt Wohlfahrts-Einrichtungen mit staatlichen Zuschussen und lasst ihr Personal ohne Sozialabgaben und Rentenversicherung arbeiten, ohne dass der Zoll kommt und sie des Landes verweist. Als Tendenzbetrieb darf sie sogar ihr weltliches Personal entlassen, wenn es sich erdreistet sich privat scheiden zu lassen oder anderweitig zu vermahlen. Sie ist ein Staat im Staate, der einer auslandischen Macht gehorcht. Und diese wiederum wahnt sich ferngesteuert von einer Instanz au?erhalb des Erdkreises.

Volkerrechtlich ist das hochst bedenklich und pikant – hat man es letztlich doch mit Aliens und deren zu Hoherem berufenen Erfullungsgehilfen zu tun. Samtliche Klosterfrauen haben sich mit einem Au?erirdischen verlobt zu fuhlen, und fur viele Ordensmanner gelten so grundgesetzlich garantierte Rechte wie das auf Besitz oder das auf freie Rede einfach generell nicht. Sie haben grundsatzlich zu gehorchen, dorthin zu gehen, wohin man sie schickt und als Karthauser lebenslang den Mund zu halten. Die Priester werfen sich bei ihrer Weihe flach auf den Boden, mit demutig ausgebreiteten Armen. Den Novizinnen wird zur Profess ihr Haupthaar geschoren. Der Firmling bekommt einen symbolischen Backenstreich wie einen Ritterschlag, mit dem er zum „Streiter Christi“ rekrutiert wird. Im Prinzip bin ich also zum nachsten Kreuzzug zwangsverpflichtet, so denn wieder mal einer starten sollte von Regensburg aus wie Ende des 11. und wahrend des 12. Jahrhunderts. Wer macht so etwas freiwillig mit? Wer gibt seine profane Menschenwurde am Weihwasserkessel bei der Kirchenpforte ab?

Sie machen das so „freiwillig“ wie die Soldaten, die sich entwurdigenden und brutal-patriarchalen Initiationsriten zu unterwerfen haben, bevor sie in die Mannergemeinschaft der „harten Kerle“ aufgenommen werden. Dasselbe Muster bei der Bundeswehr: Erst war’s nur in einem Hochgebirgszug der Mittenwalder Gebirgsjager, dann kamen solche Meldungen auch aus anderen Heeres-Einheiten, zuletzt auch aus anderen Waffengattungen, von der Marine bis zur Luftwaffe. Das System Militarismus funktioniert ahnlich starr wie andere streng hierarchisch gegliederten Apparate. Kotzen und gefickt werden sind ihr hochster Spa?. Im Dreck kriechen und Stiefel lecken sind ihre internen Tugenden. Ein Heidenspa? offensichtlich. Solche Institute sind aus sich heraus nicht reformierbar. Sie gehoren zweifellos abgeschafft. Die Domspatzen konnten auch als weltlicher Knabenchor ihrer Kirchenmusik pflegen – auf hochstem Niveau und ohne bischofliches Ordinariat, das an den Konzerten, Schallplattenaufnahmen und Fernsehauftritten jenes Geld verdient, das bald schon vielleicht als Entschadigung ausbezahlt werden muss – fur die Verbrechen seiner Pfaffen.

Blick vom Domturm auf das Regensburger Rathaus - Foto: © Wolfgang Blaschka

Fur unsere Generation wird nichts mehr herausspringen. Die Verjahrungsfristen sind langst abgelaufen. Hier genau liegt der Hase im Pfeffer: Die Verjahrungsfristen vereiteln einen gro?en Teil der (juristischen) Aufarbeitung, sie wirken letztlich nicht als Garanten fur Rechtssicherheit, sondern als pure Kinderschander-Schutzgesetze. Jeder halbwegs berufserfahrene Psychotherapeut wei? um die lange Zeit, die verstreichen kann bei traumatisierten Opfern, ehe sie sich uberhaupt erinnern, in eine tiefe Krise sturzen und dann irgendwann einmal vielleicht, wenn ihre Peiniger langst unter der Erde verrotten, bereit sind zu reden. Dennoch gilt immer noch die Regel, dass zehn Jahre nach Erreichen der Volljahrigkeit der Bauer sein Recht verloren und der Kaiser seine unverdiente Ruhe hat auf Lebenszeit. Fur die Opfer ist es noch lange nicht ausgestanden, wenn die Tater mummelnde Greise sind. Da gibt es kein Vergessen, kein Vergeben. Ohne Gerechtigkeit gibt es keinen Frieden. Daher mussen die Verjahrungsfristen fur Verbrechen gegen Kinder und Jugendliche generell aufgehoben werden, um wirksamen Jugendschutz zu gewahrleisten. Wenn ein Erwachsener niemals darauf spekulieren konnte, dass das, was er Kindern und Heranwachsenden antut, jemals verjahren durfte, ware manch ein autoritar strukturierter Mensch vielleicht etwas zuruckhaltender und wurde sich im „Bedarfsfall der Versuchung“ eher eine andere Stelle suchen oder gar seinen Beruf wechseln, sich zumindest beraten oder therapieren lassen, bevor er sich und andere lebenslanglich unglucklich macht. Nicht dass Strafandrohung generell Verbrechen verhindern konnte, aber ihre Aufdeckung ware zumindest moglich. So, wie es jetzt ist, wird nicht einmal mehr staatsanwaltlich ermittelt.

Kirchenintern bliebe ohnehin alles unterm Deckel endlos verstaubender Akten in Geheimarchiven. Will der Staat sich nicht zum Komplizen kirchlicher Strafvereitelung machen, musste er konsequent das Konkordat aufkundigen und die unmogliche Situation beenden, dass die Beschuldigten in eigener Sache ermitteln durfen. Eine klare Trennung von Kirche und Staat ware die Grundvoraussetzung, dass hinter Klostermauern wucherndes und unter frommen Handen bluhendes, himmelschreiendes Unrecht nicht mehr langer gedeihen kann. – Ich sehe schon, das wird noch eine Weile dauern. Das einzige, was dagegen sofort hilft, ist Aufdeckung, Offenlegung und Aufklarung. Da sind auch die Journalisten der Suddeutschen Zeitung gefragt. Nur keinen Bammel vor der weltberuhmten Institution der Regensburger Domspatzen! Vielleicht singen sie ja sogar gern. Ich wunsche es ihnen. – Der Dom wird daruber schon nicht einsturzen. Die heiligen Hallen sind doch die hellen Knabenstimmen seit Jahrhunderten gewohnt, sonn- und feiertags und sogar unter der Woche jeden Donnerstag um sieben Uhr morgens – auch ohne Publikumsbeteiligung – zum so genannten Engelamt mit Prozession durch die menschenleere Kathedrale samt Monstranz unterm Himmel zu Weihrauchschwaden und „Tantum ergo sacramentum“.

 

 

 

 

 




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