| Missbrauchsfall in Den Johannesanstalten: Opfer Erzählt Seine Geschichte
By Diana Deutsch
Rhein-Neckar-Zeitung
June 1, 2013
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Genau so einsam und verlassen muss er sich gefühlt haben, der heute 57-Jährige, der 1961 als Fünfjähriger in die Johannes-Anstalten gebracht und dort nach seinen eigenen Angaben über Jahre hinweg misshandelt und sexuell missbraucht wurde. Am Dienstag soll nun eine Studie vorgestellt werden, die den Vorwürfen auf den Grund geht
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Mosbach. Am schlimmsten, sagt Stefan Wagner, waren nicht die Schläge. Am schlimmsten waren auch nicht die Vergewaltigungen und der Hunger. Am schlimmsten war, sagt Stefan Wagner, dass man keine Ausbildung bekam. "Obwohl ich einen Intelligenz-Quotienten von 108 habe, durfte ich nur eine Schule für geistig Behinderte besuchen." Das Schicksal eines Heimkinds in den Sechziger Jahren. In den Mosbacher Johannes-Anstalten ist Stefan Wagner aufgewachsen. Unter schrecklichsten Bedingungen, wie er behauptet und deshalb seit Jahren um Wiedergutmachung kämpft (wir berichteten).
Am kommenden Dienstag nun will die Johannes-Diakonie eine Studie vorstellen, die den Missbrauchs-Vorwürfen auf den Grund geht. Im Vorfeld erzählen wir die Geschichte aus Stefan Wagners Sicht.
Der Bahnhof von Mosbach im Jahr 1961. Mit einer Mitarbeiterin des Jugendamts und einem Köfferchen kletterte der fünfjährige Stefan Wagner, der in Wirklichkeit anders heißt, aus dem Zug von Freiburg. Seine Eltern hatte der Junge nie kennengelernt, so wenig wie seine beiden Brüder. "Das Jugendamt entzog meinen Eltern schon früh das Sorgerecht und brachte uns Brüder in verschiedenen Heimen unter", erzählt Wagner, der heute 57 Jahre alt ist. Seine ersten fünf Lebensjahre hatte er in einem Freiburger Säuglingsheim verbracht. Dann schickte man ihn nach Mosbach.
Mehr als 700 Menschen mit Behinderung lebten Anfang der Sechziger Jahre in den Johannes-Anstalten, wie die Johannes-Diakonie damals hieß. Obwohl in den Schlafräumen und Werkstätten schon drückende Enge herrschte, flatterten der Heimleitung jeden Tag neue Aufnahmeanträge auf den Tisch.
Warum in dieser Situation auch noch Kinder wie Stefan Wagner, die weder geistig noch körperlich behindert waren, in die Johannes-Anstalt geschickt wurden, ist rätselhaft. Man kann nur vermuten, dass die Kinderheime damals völlig überfüllt gewesen sein müssen. Auch in den Johannes-Anstalten gab es für den Fünfjährigen eigentlich keinen Platz. "Weil alle Stationen belegt waren, wurde mir ein Bett im Schlafsaal der älteren Jungs zugewiesen", erinnert Wagner. Der jüngste seiner Mitbewohner war 15, der älteste 25 Jahre alt. Alle galten als verhaltensgestört.
Stefans Martyrium begann schon in der ersten Nacht. "Es war immer so, das die größeren Jungs zu mir ins Bett kamen und mich zu sexuellen Handlungen zwangen", sagt Wagner. Hilfe gab es keine. "Wenn man sich dem Gruppenleiter anvertraute, wurde man zuerst von ihm verprügelt, danach von den Jungs, die man verraten hatte."
Glaubt man Stefan Wagner, dann waren Schläge in den Johannes-Anstalten so selbstverständlich wie Vergewaltigungen. "Morgens mussten wir im Schlafsaal den Schlafanzug ausziehen und nackt in den Tagesraum rennen, wo die Kleidung auf Stühlen lag", erinnert sich der ehemalige Heimzögling. Im Gang zwischen Tagesraum und Schlafsaal, sei der Stationsleiter gestanden und habe seinen Gürtel nach den rennenden Jungen geschwungen. "Oft habe ich dicke Striemen gehabt."
Auch der Hunger war allgegenwärtig, weshalb die Jüngeren zum Klauen abgerichtet wurden. Gelang der Diebeszug, schlugen sich die älteren Jungs die Bäuche voll. Wurde Stefan erwischt, hagelte es Schläge mit einer eisernen Nudelschöpfkelle auf den nackten Po.
Schreckliche Geschichten. Es gibt noch viel mehr davon. Stefan Wagner hat sie bis ins Detail aufgeschrieben. Da war der Pfarrer, der mit dem Jungen "Hoppe-Hoppe-Reiter" gespielt hat. Da waren die erwachsenen Bewohner der Männerstation, die den Jungen Spielzeug versprachen, wenn sie sich mit ihnen hinter dem Schuppen trafen. Da war der Gruppenleiter, in dessen Reiterstiefel griffbereit die Gerte steckte.
Von 1961 bis 1971 lebte Stefan Wagner in den Johannes-Anstalten. Zwei Jahre, bevor er das Heim verließ, änderten sich dort die Verhältnisse. Ab 1969 kümmerten sich Psychologen um die Heimbewohner. Schläge waren fortan strengstens verboten.
Stattdessen gab es Psychopharmaka. "Man hat uns mit Tabletten ruhig gestellt", berichtet Stefan Wagner. "Ich musste morgens und abends Valium nehmen, aber das tat wenigsten nicht weh." Sofern man sich ruhig verhielt. Wurde jemand laut, "hat man ihn mit Tabletten so voll gepumpt hat, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte."
Stefan Wagner muss schwer traumatisiert gewesen sein, als er hinaus ins Leben entlassen wurde. Dennoch versuchte er den Einstieg. Er fand eine Stelle in einem Industriebetrieb, lernte eine Frau kennen, bekam sogar einen Sohn. Doch dann holten ihn die Erinnerungen wieder ein. Wagner betäubte sich mit Drogen. Jahrzehntelang. Die Beziehung zerbrach. Längst ist er arbeitslos.
2010, als die Missbräuche in der katholischen Kirche öffentlich wurden, fasste auch Stefan Wagner den Mut, seine Geschichte bekannt zu machen. Der runde Tisch der Bundesregierung sprach ihm eine Entschädigung von 12 000 Euro zu. Das Geld wird in überschaubaren Monatsraten ausgezahlt. Wagner kann es brauchen.
Die Johannes-Diakonie lud zu einer Pressekonferenz. Vorstand Jörg Huber zeigte sich betroffen und bot allen Opfern Hilfe an. Stefan Wagner nahm ihn beim Wort und bat um etwas, das ihm viel wichtiger ist als Geld und große Worte: Einen festen Arbeitsplatz. In der Johannes-Diakonie. Als Fahrer beispielsweise hätte Wagner gern gearbeitet.
Aber das einzige Angebot, das der Vorstand ihm gemacht habe, sagt Wagner, sei eine Beschäftigung in einer Werkstatt für Behinderte gewesen. "Für mich war das wie ein Schlag ins Gesicht."
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