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Die Zapfchengeber Vom Elitegymnasium

Die Welt
May 27, 2013

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Ein katholisches Jungengymnasium. Ein Pater, der Schuler mit Zapfchen behandelt. Eingestellte Ermittlungen. An einer Bonner Eliteschule ist ein Unrecht geschehen. Doch wem genau, ist nicht klar. Von Anette Dowideit

Der Fall an einer katholischen Jungenschule in Bonn zeigt, wie es in Deutschland lauft, wenn ein Missbrauchsverdacht im Raum steht. Die Mutter eines moglichen Opfers, Frau L., hat einen Pater angezeigt. Danach musste ihr Sohn die Schule verlassen

Jede Nachricht lebt von den Bildern, die sie im Kopf des Lesers erzeugt. Von Projektionen. Man hort eine Geschichte und erganzt im Kopf: Opfer, Tater, Recht gegen Unrecht. Bis es ins jeweilige Weltbild passt. Zur Logik der Dramaturgie.

Peter Billig hat viel nachgedacht in den letzten Monaten, scheint es. Vor allem uber Kopfkino. Daruber, wo Fursorge endet und wo Missbrauch beginnt. Und uber die Welle an Missbrauchsfallen, die in den vergangenen Jahren die katholische Kirche uberrollte. "Jemand hat mir gesagt, man musse einfach nur diese Begriffe vor sich hinsagen, und schon forme sich das entsprechende Bild", sagt der grauhaarige Mann, der in rheinischem Singsang spricht: "Katholisch. Mannerorden. Jungenschule. Pater. Zapfchen."

Es ist etwas uber ein Jahr her, dass uber Billigs Schule ein Sturm niederbrach. Ein junger Lehrer deckte auf, dass an der Bonner Eliteeinrichtung, dem Collegium Josephinum, Patres jugendlichen Schulern uber Jahre hinweg Zapfchen verabreichten. Die Eltern zweier Schuler stellten Strafanzeige wegen sexuellen Missbrauchs.

Doppelte Bestrafung fur die Schuler?

Ein Jahr spater ist die Bilanz des Falls: Beide Schuler haben die Schule verlassen – unter anderem wegen Mobbings an der eigenen Schule, wie die Eltern sagen. Die Bonner Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungen eingestellt, die vorgesetzte Kolner Generalstaatsanwaltschaft vor wenigen Wochen diese Entscheidung bekraftigt. Juristisch ist der Fall damit beendet. Der junge Lehrer bekam seinen Vertrag nicht verlangert und musste sich einen neuen Job suchen. Der Pater dagegen konnte demnachst wieder in der Schule arbeiten.

Wurden hier zwei Schuler doppelt gestraft, erst als Opfer von sexuellen Ubergriffen, dann als Opfer einer Schulgemeinschaft aus Mitschulern, Eltern und Lehrern, die sich mehrheitlich auf die Seite des ehrenwerten Paters schlugen?

Der Fall der Schule, die hier alle Cojobo nennen, wirft Fragen auf, die weit uber Bonn und das Rheinland hinaus gehen: Wie soll – wie muss – das Umfeld reagieren, wenn plotzlich der Vorwurf im Raum steht, ein Erwachsener habe ein Kind missbraucht? Wie soll man sich verhalten, wenn man nicht dabei war, nicht wissen kann, was tatsachlich geschehen ist? Wem soll man glauben?

All diese Fragen machen den Fall zu einer Miniatur des Falls Kachelmann: Die Aussage von mutma?lichem Tater und mutma?lichem Opfer stehen gegeneinander. Am Ende muss jeder fur sich selbst entscheiden, wem er glaubt: Angehorige, Freunde, Offentlichkeit, die ihr Urteil davon abhangig machen konnen, wen sie glaubwurdiger finden. Und Staatsanwaltschaft und Richter – die sich nur auf die Fakten stutzen durfen.

Ein ambitionierter Lehrer auf Klassenfahrt

Peter Billig ist auffallig schick gekleidet fur einen Schulleiter. Er tragt einen dunklen Anzug, der teuer aussieht, dazu ein wei?es Hemd mit Krawatte, Manschettenknopfe. Vielleicht will er an diesem Tag besonders uberzeugend wirken. Man braucht ihn gar nicht viel zu fragen. Billig, dessen Buro mit einer schweren Standuhr eher wirkt wie ein Wohnzimmer, erzahlt von selbst, ausschweifend und mit Nachdruck in der Stimme.

Vor allem daruber, wie leid ihm die ganze Angelegenheit fur alle Betroffenen tut. Fur die betroffenen Schuler und ebenso den beschuldigten Pater selbst, der mehrere Monate vom Schuldienst ausgeschlossen war. Und, ja: sogar fur den jungen Vertrauenslehrer Mathias Wirth. Den 28-Jahrigen, der den Fall ins Rollen brachte und an dessen Person er zu hangen scheint.

"Peter Billig kann sogar verstehen, was den Mann angetrieben hat", sagt Peter Billig, der von sich selbst haufiger in der dritten Person spricht. Wirth sei noch jung, und sehr ambitioniert, sagt er, und dabei klingt Bewunderung in seiner Stimme mit. "Aber es fehlt ihm eben die Lebenserfahrung." Uberhaupt nicht verstehen, sagt Billig, konne er dagegen, wie Wirth sich der Schule gegenuber verhalten habe.

Ein Wochenende mit Folgen

Im November 2011 fahrt der junge Diplom-Theologe Wirth mit ein paar Schulervertretern zu einem gemeinsamen Wochenende. Wirth ist damals erst wenige Monate an der Schule, die Schuler haben ihn gerade zum Vertrauenslehrer gewahlt.

Dort erfahrt er von den Schulern Ungeheuerliches: Die beiden Patres, die an der Schule arbeiten, sollen jugendlichen Schulern, 12- und 13-Jahrigen, im Sanitatsraum regelma?ig Zapfchen verabreicht haben. Gegen Ubelkeit, Bauchweh, manchmal sogar gegen Kopfschmerzen. Einer der beiden Pater, schildern die Schuler laut Wirth, Pater K., sei auch sonst bekannt dafur, Schuler zu betatschen, ihnen im Vorbeigehen auf den Po zu klapsen. Manchmal habe er sogar Schulern Strafarbeiten erlassen, wenn diese sich dafur einen solchen Klaps hatten geben lassen.

Wirth ist alarmiert. Er weiht einen zweiten Lehrer ein und gemeinsam machen sie sich an einem der nachsten Tage auf dem Schulhof auf die Suche nach Opfern des Paters. Zwei Elternpaare zeigen Pater K. in den folgenden Wochen schlie?lich an. Eines, weil er dem Sohn ein Zapfchen eingefuhrt, das andere, weil er den Sohn im Intimbereich beruhrt haben soll.

Lehrauftrag am Institut fur Ethik der Medizin

Mathias Wirth ist ein eher unauffalliger junger Mann in Jeans, Turnschuhen und Sportjacke. Er konnte in dem Cafe im Westen Kolns, in dem er sitzt und die Geschichte noch einmal erzahlt, gut als Student der nahe gelegenen Sporthochschule durchgehen.

Tatsachlich hat er mit seinen 28 Jahren schon eine beachtliche akademische Karriere hinter sich: Er hat katholische Theologie in Bonn und Rom studiert, lebte mit 20 Jahren schon im Priesterseminar, hat seit zwei Jahren einen Lehrauftrag am Institut fur Ethik der Medizin am Universitatsklinikum Hamburg-Eppendorf.

Seit ein paar Monaten arbeitet er dort auch als wissenschaftlicher Mitarbeiter – nachdem das Cojobo seinen Jahresvertrag nicht verlangern wollte. Es ist Wirth nicht schwer gefallen, nach dem unfreiwilligen Ende seiner Laufbahn an der Schule einen neuen Job zu finden.

Trotzdem will er die Sache nicht auf sich beruhen lassen. "Es kann doch nicht sein, dass eine Schule ein System aus autoritarer Einschuchterung aufbaut; dass in diesem System sexuelle Ubergriffe stattfinden und das nicht geahndet wird", sagt Wirth, beugt sich weit uber den Tisch und tippt mit dem Zeigefinger auf den Notizblock der Reporterin, um seinen Worten Nachdruck zu verleihen. Weil die rechtliche Aufarbeitung des Falls keine Gerechtigkeit erbracht habe, sagt Wirth, wolle er nun zumindest moralisch Recht bekommen. Seine Gesprache mit der "Welt am Sonntag" sind sein letzter Versuch.

Schule fur die "Perlenohrringfraktion"

Das System der Autoritat, von dem Wirth spricht, ist das Cojobo. Ein typisches Schulgebaude, praktisch gehalten, dreigeschossiger Flachbau. Auffallig ist hochstens die Lage: gleich neben der Schule steht das ehrwurdige Kloster des katholischen Redemptoristen-Ordens, der die Schule betreibt: Insgesamt 1300 Schuler lernen hier, Realschuler und Gymnasiasten.

Das Cojobo, dessen Geschichte bis ins 19. Jahrhundert zuruckreicht, gilt als Schule der etablierten Bonner, der Alteingesessenen, "der Bonner Perlenohrringfraktion", wie eine Mutter sagt. Der Kinder von Eltern, die es geschafft haben im Leben. Viele der Vater waren selbst schon hier, viele kennen sich untereinander. Unter Jugendlichen in der Stadt erzahlt man sich, dass man als Au?enseiter im Cojobo manchmal schwer habe, in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden.

Fur die Eltern, und damit auch fur die Schuler, ist das Cojobo offenbar viel mehr als nur ein Ort, an den sie zum Lernen gehen. Spricht man Schuler auf dem Pausenhof oder im nahegelegenen Selbstbedienungscafe darauf an, ob es sein konne, dass sich einer der Patres an Schulern vergriffen habe, empfinden viele das als personlichen Angriff: "Wir wollen nicht, dass auf unserer Schule rumgehackt wird", sagt ein etwa 16-Jahriger, dreht sich um und geht weg, ohne ein weiteres Wort zu sagen.

Die Verdrangungsmechanismen

Mit den Medien haben sie keine guten Erfahrungen hier, sagen einige der Schuler. Als der "Fall Cojobo" damals ins Rollen kam, fielen die Reporter der Lokalzeitungen auf dem Schulhof ein – und veroffentlichten dann Meldungen, die "ganz klar gegen die Schule waren", wie einer der Schuler konstatiert.

Eine Zeitung schrieb, Pater K. hatte in der Schule den Beinamen "Pater Pado" gehabt. Dabei, sagen viele Schuler ubereinstimmend, hatten sie diesen Begriff noch nie gehort.

Einer, der den Fall Cojobo intensiv verfolgt hat, ist Norbert Denef vom Netzwerk Betroffener von sexualisierter Gewalt, kurz netzwerkB. Denef selbst wurde acht Jahre lang missbraucht, erst von einem Priester, spater von einem Organisten. Den Priester lud er Jahre spater zu seiner Hochzeit ein, er lie? sich sogar von ihm trauen, so gut funktionierten die Verdrangungsmechanismen bei ihm, sagt er. Er gilt als das erste Opfer, das von der romisch-katholischen Kirche eine Entschadigung erwirken konnte.

Fur ihn klingt die Version logisch, die Wirth erzahlt. Denef glaubt, ein Konstrukt wie das des Cojobo, in dem Generationen von Mannern die Schule besucht hatten und das von Respekt vor Geistlichen gepragt sei, lade zu Ubergriffen tendenziell ein. "In einem von institutionalisierter Autoritat gepragten Gefuge kommt es schnell dazu, dass man ein Tun, das absolut nicht normal ist, als normal empfindet."

Der Sanitatsraum ist manchen unheimlich

Die Patres sind das, was das Bonner Cojobo von anderen Schulen unterscheidet. Sie leiten die Schulseelsorge, arbeiten in der Mensa mit, begleiten Klassenfahrten. Ein zentraler Teil ihres Wirkens ist aber der Sanitatsraum. Das Zimmer, in dem die sexuellen Ubergriffe stattgefunden haben sollen.

Hier werden Mittel- und Oberstufenschuler zu Schulsanitatern ausgebildet. Laut Schule sollen die Schuler dadurch soziales Engagement lernen. Die Patres behandeln auch selbst die Schuler – beziehungsweise taten dies bis vor rund einem Jahr. Es gilt das Vier-Augen-Prinzip, jede Behandlung wird streng protokolliert. Mittlerweile sind sie sehr vorsichtig geworden.

Der Raum steht offen fur die Besichtigung der "Welt am Sonntag". Auch andere Reporter hatten ihn sich ruhig ansehen konnen, sagt Pater Jurgen Langer, "aber das war wohl nicht interessant." Langer ist der Chef des Sanitatsdienstes am Cojobo, er ist ausgebildeter Rettungsassistent und bringt seine Erfahrungen seit uber 20 Jahren in den Sanitatsdienst der Schule ein.

Immer wieder hat er beim Forderverein der Schule Geld fur die Ausstattung des Zimmers locker gemacht. Das erklart, warum es dort aussieht wie in einem Krankenhaus: Es gibt einen Defibrillator, ein EKG-Gerat, einen Infusionsstander. "Durch unsere Technik und Ausbildung konnten wir tatsachlich hier schon Schulern das Leben retten", sagt Langer stolz, und auch die Traube an Jungen, die um ihn herum steht und zuhort, nickt zustimmend. Der Sanitatsdienst, scheint es, ist Pater Langers Leidenschaft.

Das allen Priestern bekannte Beruhrungsverbot

Manchen ist er dagegen unheimlich. Zum Beispiel Mathias Wirth. "Das ist doch nicht normal, dass da so ein Kult drum veranstaltet wird", meint er. Es habe im Sanitatsdienst immer wieder Falle deutlicher Kompetenzuberschreitungen gegeben, sagt er. Infusionen, die Schulern nach Sportverletzungen am Spielfeldrand gelegt worden seien, Medikamente seien ohne Rucksprache mit den Eltern verabreicht worden.

Uberhaupt, meint Wirth, gehorten Ordenspatres nicht in den Sanitatsdienst einer Schule. "Dass katholische Geistliche in einem so korpernahen Bereich wie dem Sanitatsdienst arbeiten, verletzt die Regula Tactus, das allen Priestern bekannte Beruhrungsverbot", sagt Wirth.

Seit 2010 die Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche ins Rollen gekommen ist, kommt kaum eine Debatte uber die Kirche noch ohne das Thema aus. In den vergangenen Tagen kochten die Gemuter ein weiteres Mal hoch, als auf bundespolitischer Ebene daruber gestritten wurde, wie die Opfer angemessen zu entschadigen seien.

Man fragt sich vor diesem Hintergrund, warum sich manche Geistliche nicht besser davor schutzen, in zweideutige Situationen zu geraten. So wie Pater K.. Der junge Theologe Wirth findet, es sei es ganz einfach eine Sache der priesterlichen Klugheit, sich Schutzbefohlenen als Geistlicher nicht allzu sehr zu nahern.

Wirth ist ein begabter Rhetoriker. Er kann sehr uberzeugend sein. Schulleiter Billig sagt: "Als ich ihn kennenlernte, habe ich gedacht: Die Eltern konnen sich glucklich schatzen, einen so hochintelligenten Sohn zu haben."

Frau L. hatte ihre Vergangenheit sorgsam gehutet

Zwei Wochen nach dem Treffen im Kolner Cafe sitzt Mathias Wirth im Wohnzimmer der Frau L. im Bonner Stadtteil Endenich. Ein liebevoll eingerichtetes Wohnzimmer mit Tischlaufer, auf dem Sofa drapierten Kissen, Kunstdrucken mit Herz-Motiven. Frau L. hat lange gebraucht, bis sie sich zu diesem Treffen hat durchringen konnen. Kein einziges Mal hat sie bisher mit der Presse gesprochen. Wirth hat sie schlie?lich uberredet und angeboten, zum Gesprach mitzukommen, zur Unterstutzung. Sie sagt, sie wolle sich nicht zufrieden geben mit der Entscheidung der Staatsanwaltschaft, die das Verfahren eingestellt hat. "Es ist wichtig zu kampfen, damit andere Schuler geschutzt werden", sagt sie.

Wenn man mit Frau L. spricht, hat man das Gefuhl, sie mit Samthandschuhen anfassen zu mussen. Die zierliche Asiatin weint im Gesprach immer wieder. Das Treffen kostet sie Kraft – und trotzdem will sie reden. Vor 20 Jahren sei sie nach Deutschland gekommen, erzahlt sie. Da lag der schlimmste Teil ihrer Lebensgeschichte schon hinter ihr. L. sagt, dass sie als Studentin selbst missbraucht wurde. All zu viel soll nicht in der Zeitung stehen uber diese schlimme Zeit, sagt sie. Nur so viel: Es zehrt heute an ihr, dass sie damals geschwiegen hat. L. ging nach Deutschland, und damit war dieser Teil ihres Lebens abgeschlossen.

Bis zum 6. Dezember 2011. An diesem Tag bekam sie einen Brief. Absender war Pater Johannes Romelt, Provinzial des Redemptoristen-Ordens, der das Cojobo betreibt. Er hatte an alle Eltern und Lehrer einen Rundbrief aufgesetzt. Darin stand: "Am Sonntag informierte mich der Schulleiter unseres Gymnasiums daruber, dass (...) von Vorbehalten berichtet wurde gegen das Medikamentenkonzept des Schulsanitatsdienstes. (...) Daruber hinaus gab es Geruchte bezuglich des Personenumgangs von Pater K. mit Schulern – 'Es soll mehrmals einen Klaps auf den Hintern gegeben haben nach dem Unterricht.' "

Wenige Tage zuvor war Lehrer Wirth im Buro von Schulleiter Billig gewesen und hatte ihm berichtet, was er in den vergangenen Tagen auf dem Schulhof und in den Klassenzimmern zusammengetragen hatte: Dutzende Schuler hatten berichtet, dass sie selbst Zapfchen von einem der Patres verabreicht bekommen hatten. Einer der Schuler habe beobachtet, wie Pater K. bei einem Zapfchen den Finger nachgeschoben habe, um zu prufen, ob es "richtig drin" sei. Der Schuler, sagt Wirth heute, habe sich bereit erklart, gegenuber der Staatsanwaltschaft als Zeuge auszusagen. Diese habe ihn nicht angehort.

Die Angst vor Ungerechtigkeit

Als Frau L. den Brief liest, entsteht ein Riss in ihrer sorgsam zusammengeflickten Alltagswelt. "Ich wei? selbst am besten, dass es so etwas wie Missbrauch nicht nur in Filmen gibt ", sagt sie. Also spricht sie mit ihrem Sohn, fragt. Der erzahlt widerstrebend, dass auch ihm Pater K. vor zweieinhalb Jahren ein Zapfchen gegeben habe, Buscopan, ein Medikament, das gegen Magen – und Darmkrampfe verabreicht wird.

Frau L. sagt, sie habe den Pater nicht gleich verurteilen wollen, habe zunachst einen Lehrer gefragt, was sie von der ganzen Sache halte. Erst, als diese gesagt hatte, da sei wohl etwas dran, habe sie die Strafanzeige erstellt. Wie sie auf die Idee kam? "Die kam von Herrn Wirth", sagt sie.

Was diese Geschichte so besonders macht, ist, dass Seite uberzeugend ist. Die mutma?lichen Oper und der junge Lehrer Wirth ebenso wie die Schulleitung, der Orden, und diejenigen Eltern Schuler, die sagen: So kann es einfach nicht gewesen sein. Auch dieses Dilemma macht den Fall Cojobo so typisch fur Sexualstrafverfahren, die tagtaglich uberall im Land, uberall auf der Welt stattfinden. Man scheut sich, sich auf eine Seite zu schlagen. Man hat Angst, jemandem Unrecht zu tun.

Wahrscheinlich ist genau dieser Reflex der Au?enstehenden auch der Grund, warum sich viele Opfer von sexuellen Ubergriffen so schwer tun, sich zu offnen. Im vergangenen Sommer riefen drei Frauen per Internet zur Aktion #ichhabnichtangezeigt auf. Sie forderten Betroffene auf, zu erzahlen, warum sie eine Tat nicht angezeigt hatten.

In nur sechs Wochen nahmen 1105 Menschen teil. Die Auswertung zeigte, dass 93 Prozent der Taten im sozialen Umfeld stattfanden. Die Teilnehmer schrieben sinngema?, sie hatten aus "Verantwortung" fur wichtige soziale Gefuge keine Anzeige erstattet, also fur Familie, Freundeskreis, Arbeitsplatz oder Schule.

Frau R. wei?, worauf sie sich einlasst

Zur gleichen Zeit wie Frau L. offnet Frau R., die in einem anderen Stadtteil in einer gepflegten Wohnsiedlung lebt, mit hohem Zaun und Steingrill im Vorgarten, eine Kopie desselben Briefs. Auch sie spricht ihren damals 14-jahrigen Sohn darauf an. Dieser erzahlt, dass Pater K. ihn einmal, als er mit Bauchschmerzen in den Sanitatsraum kam, merkwurdig abgetastet habe: Erst am unteren Bauch, dann unterhalb des Hosenbundes, auch im Schambereich. "Er hat sich geschamt, als er davon erzahlt hat. Er hat es ganz klar als Ubergriff empfunden", sagt Frau R..

Frau R. hat keinerlei Vorgeschichte wie Frau L.. Sie wirkt stark, selbstbewusst. Frau R. arbeitet in der Medienbranche. Man kann davon ausgehen, dass sie wei?, worauf sie sich einlasst, als sie drei Tage vor Weihnachten 2011 Pater K. anzeigt.

Der Fall wirft auch die Frage nach der Rolle von Padagogen und Aufsichtspersonen auf: Steht man als jemand, der Kinder erzieht oder betreut, in unserer Gesellschaft unter Generalverdacht? Hat sich das Verhaltnis von Eltern zu Lehrern so gewandelt, dass man standig auf der Hut sein muss, keinen Schuler falsch zu beruhren?

Dafur, dass es tatsachlich so sein konnte, sprechen die geringen Zahlen an mannlichen Padagogen in der Bundesrepublik: Nur zwolf Prozent aller Grundschullehrer sind Manner, und bei den Erziehern in Kindergarten und –krippen sind es sogar nur um die drei Prozent. Die Berliner Professorin Susanne Viernickel, die Erzieherinnen fur fruhkindliche Padagogik ausbildet, glaubt, eine gewisse gesellschaftliche Skepsis gegenuber der Motivation mannlicher Erzieher sei ein wichtiger Grund dafur.

Zunehmende Hysterie ubersensibler Eltern

Naturlich konnen sexuelle Ubergriffe auch von Frauen ausgehen – und auch sie konnen zu Unrecht verdachtigt werden. Einen Zeitungsartikel im Internet zum Thema Cojobo kommentierte eine Leserin, die sich als Lehrerin der Schule zu erkennen gab, so: "Wenn ich demnachst ein Kind trosten will und ihm dabei die Hand aufs Knie lege – muss ich dann kunftig auch Sorge haben, wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt zu werden?"

Im vergangenen Sommer stellte das Deutsche Jugendinstitut eine Studie vor, fur die rund 1500 Schulen, Internate und Heime befragt wurden. Das Ergebnis klang drastisch: An fast jeder zweiten Schule, 43 Prozent, wurden in den vergangenen drei Jahren Verdachtsfalle auf sexuellen Missbrauch gemeldet – haufig durch Lehrer oder Mitschuler. Das lasst viele Deutungen zu. Entweder sind solche Ubergriffe trauriger Alltag. Oder die hohe Fallzahl ist Ausdruck einer zunehmenden Hysterie ubersensibler Eltern. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit irgendwo dazwischen.

Heute werden junge Padagogen im Studium standardma?ig dafur ausgebildet, mit korperlicher Nahe zu Schulern umzugehen – auch, um sich selbst vor Strafanzeigen zu schutzen. "Pater K. war eben noch ein Padagoge alter Schule, der hat uber solche Dinge gar nicht nachgedacht", sagt die Mutter eines ehemaligen Cojobo-Schulers, "der hat auf Klassenfahrten, wenn ein Kind vor Heimweh geweint hat, das Kind in den Arm genommen. Ruckblickend hatte er sich damals schon in Teufels Kuche bringen konnen."

Die offentliche Entrustung

Als der Fall im vergangenen Januar in den Bonner Medien bekannt wird, ruft er einen Sturm an Reaktionen hervor: Seitenweise schreiben Lehrer, Eltern und ehemalige Schuler Leserbriefe. Die meisten ahneln sich im Tenor: Eine Strafanzeige, war das verhaltnisma?ig im Vergleich zu dem, was geschehen sein mag? Die offentliche Entrustung richtet sich kaum gegen die Schule oder den Pater.

Pater Langer, der Leiter des Sanitatsdienstes, hat zum Gesprach in sein Buro im Haus des Ordens geladen, das an die Schule angrenzt. Weil sein Ordensbruder Pater K. sich zu der Sache lieber nicht au?ern will, ubernimmt Langer das. Bevor das Gesprach beginnt, zundet eine Kerze in seiner Sitzecke an. "Die Vorstellung, dass ein Pater Jugendlichen Zapfchen gibt und das anschlie?end als Masturbations-Phantasie nutzt, die passt naturlich zu den Vorurteilen, die sich viele Leute in den letzten paar Jahren bilden mussten", sagt er.

Langer referiert lange uber den Sinn und Unsinn von Zapfchenvergabe an Jugendliche. Er druckt aus dem Computer an seinem Schreibtisch eine Seite mit einem Gutachten aus, das belegt, dass es unter Umstanden sehr wohl sinnvoll sein konne, Jugendlichen oder gar Erwachsenen Zapfchen zu geben. Ihm ist wichtig, dass die Schule und der Sanitatsdienst sich immer schon zu medizinischen Dingen von Arzten hat beraten lassen. Und er sagt, zum Fall des Sohnes der Frau R.: "Zum Abtasten des Bauchs gehort auch der Unterbauch, und der grenzt nun einmal an den Schambereich."

Dass ein Junge, der gerade in der Pubertat sei und dem seine neue entdeckte Sexualitat ohnehin noch nicht ganz geheuer sei, da schon einmal eine Beruhrung als unangenehm oder unangebracht empfinde, ist nach Einschatzung von Pater Langer die wahrscheinlichste Erklarung fur das, was am Cojobo passiert ist. Und dafur, dass sein Kollege Pater K. die Begegnung mit dem Sohn von Frau R. ganz anders wahrgenommen habe als der Junge selbst.

War Gewalt im Spiel?

Strafverfolgungsbehorden weltweit beschaftigt genau dieses Problem: Bei sexuellen Ubergriffen sind fast immer nur zwei Menschen dabei, Tater und Opfer – und die unterschiedliche Wahrnehmung beider Parteien spielt bei den Ermittlungen haufig eine Rolle. An den Ermittlern liegt es, zu entscheiden, wer von beiden die Wahrheit sagt: War Gewalt im Spiel? Macht – oder eine zu starke padagogische Abhangigkeit? Oder geschah ein Geschlechtsverkehr einvernehmlich?

Die Zeitung "taz" schrieb vor kurzem, die Opfer von sexueller Gewalt wurden zu oft von den Ermittlungsbehorden in die Mitverantwortung genommen: "Man stelle sich vor, in einer Wohnung fangt der Weihnachtsbaum Feuer, jemand ruft die Feuerwehr. Aber anstatt loszufahren, fragt diese erst mal nach: Gibt es Zeugen? Haben Sie sich fahrlassig verhalten oder das Feuer womoglich absichtlich gelegt?"

Naturlich hinkt der Vergleich, schlie?lich ist der Missbrauch zum Fall der Anzeige schon geschehen und lasst sich nicht mehr ruckgangig machen. Doch die Argumentation will auf etwas anderes hinaus, namlich, dass der Umgang der Strafbehorden mit den Opfern sie oftmals ein zweites Mal demutige. "Rape Culture" hei?t der Begriff aus dem angelsachsischen dafur, wenn eine Gesellschaft zu salopp uber Sexualdelikte hinweg sieht.

Die Gefahr einer Falschverurteilung ist gering

Der Wettermoderator Jorg Kachelmann ist einer, der diesen Begriff fur absurd halt. In den vergangenen Wochen hat sein Fall neue Aktualitat gewonnen, als Sprachwissenschaftler den Begriff "Opfer-Abo" aus seinem Buch zum "Unwort des Jahres 2012" wahlten. Frauen, soll das Wort aussagen, werde beim Thema Sexualitat stets die Opferrolle zugewiesen. Fast zwei Jahres ist es schon her, dass Kachelmann im Mai 2011 vom Vorwurf der Vergewaltigung einer ehemaligen Partnerin freigesprochen wurde. Seither hat er es sich zur Aufgabe gemacht, uber Falschbeschuldigungen aufzuklaren. Kachelmann meint, in Deutschland gebe es eine "falschbeschuldigungsculture", grundsatzlich werde den Opfern geglaubt.

Die Fakten sagen allerdings etwas anderes aus. Ein Forscherteam der Londoner Metropolitan University ermittelte, dass nur drei Prozent aller angezeigten Vergewaltigungen Falschanschuldigungen seien.

Die Gefahr, Opfer einer Falschverurteilung zu werden, ist damit gering. Die Gefahr, zum Opfer zu werden, dagegen ist hoch. Laut einer Studie im Auftrag des Bundesfamilienministeriums haben 13 Prozent aller in Deutschland lebenden Frauen mindestens einmal in ihrem Leben strafrechtlich relevante sexuelle Gewalt oder Notigung erfahren. Nur funf Prozent erstatteten demnach uberhaupt Anzeige – und nur in 13 Prozent aller Falle, in denen Anklage erhoben wurde, kam es zu einer Verurteilung.

Betroffenenverbands-Sprecher Denef sagt, auch in Deutschland gebe es ein Wahrnehmungsproblem. Das sei auch durch die Konstruktion des Sexualstrafrechts entstanden, das Ubergriffe in "leichte" und "schwere" einteilt. "Das klingt, als ware leichter sexueller Missbrauch ein Kavaliersdelikt, und leider hat sich diese Kategorisierung in die Denkmuster unserer Gesellschaft eingegraben." Eine Verhohnung der Opfer sei das, meint Denef. Jeder Ubergriff sei genau so drastisch, wie der Betroffene ihn empfindet.

Die Beurlaubung des Paters

Im Schultrakt sitzt Schulleiter Billig in seinem gediegenen Buro mit der Standuhr und schenkt sich noch mal einen Tee nach. "Peter Billig sagt ganz klar: Entscheidend ist, wie ein Schuler eine Handlung wahrnimmt, ob er sie als Ubergriff empfindet oder nicht ", sagt Billig.

Warum also hat er nicht entschlossener gehandelt, als er erfuhr, dass Schuler seiner Schule, Schutzbefohlene, sich als Opfer eines sexuellen Ubergriffs fuhlten? Billig hebt die Schultern und lasst sie demonstrativ wieder fallen. "Ich wusste nicht, was ich noch mehr hatte tun konnen", sagt er. Gleich, nachdem Wirth ihn informiert habe, habe er den Orden und den Vorsitzenden der Elternpflegschaft informiert. Der wiederum habe insgesamt drei Schulpflegschaftssitzungen zum Thema einberufen. Der Orden habe gleich einen Brief an alle Eltern geschrieben und eine unabhangige Gutachterin eingeschaltet.

Aber warum hat er nicht sofort, als er von den Vorwurfen erfuhr, dafur gesorgt, dass der Pater vorubergehend vom Schuldienst ausgeschlossen wird? So lange, bis die Vorwurfe ausgeraumt waren. Auch, um andere Kinder vor eventuellen Ubergriffen zu schutzen. Erst rund einen Monat, nachdem Frau R. ihre Strafanzeige stellte, beurlaubte die katholische Kirche den Pater von seiner Tatigkeit als Schulseelsorger. Billig sagt, anfangs habe noch gar kein Missbrauchsverdacht im Raum gestanden. Er selbst sei uberhaupt der erste gewesen, der diese Vermutung gehabt hatte – und er habe versucht, die notige Offentlichkeit herzustellen.

Wahrend jedoch der Pater fast den gesamten Januar weiter an der Schule blieb, spurten die beiden Schuler eine breite Front der Ablehnung, durch Mitschuler und Lehrer – so zumindest schildern es die Mutter. Frau R. sagt, der Klassenlehrer ihres Sohnes habe diesem kurz nach der Strafanzeige nahegelegt, die Schule zu wechseln. Ein anderer habe einen Kumpel des Sohnes angerufen und diesen aufgefordert, vor Gericht nicht als Zeuge auszusagen.

Die Mutter erleben einen Shitstorm

Die Stimmung gegen die beiden Schuler spitzt sich weiter zu, als Schulleiter Billig Anfang Februar eine Schulversammlung einberuft. Da sagt er, es habe weder Ubergriffe gegeben noch Opfer. "Stellen Sie sich mal vor, wie mein Sohn sich da gefuhlt hat, als er da sa? und sich das anhoren musste", sagt Frau R.. Pater K. arbeitete weiter in der Schule.

Auch die beiden Mutter spurten den Gegenwind aus der geschlossenen Gruppe der Eltern, sagen sie. Frau R. erzahlt, es habe damals einen regelrechten Shitstorm gegen sie gegeben, sie sei mit E-Mails anderer Eltern bombardiert worden, in denen sie aufgefordert wurde, ihre Anzeige zuruckzuziehen. "Es gab von den Eltern keinerlei Schutzreaktion gegenuber den eigenen Kindern", sagt Frau R. kopfschuttelnd.

Auch Lehrer Wirth sagt, er habe sich in den Wochen nach dem Bekanntwerden des Falls wie bei einem Spie?rutenlauf gefuhlt. Teile des Lehrerkollegiums hatten von einem auf den anderen Tag nichts mehr mit ihm zu tun haben wollen. "Allein mit mir uber den Flur zu gehen oder im Lehrerzimmer mit mir zu sprechen haben einige Kollegen gemieden", sagt er.

Durch die Lehrerschaft verlief offenbar ein tiefer Spalt: die einen, die Wirth fur mutig hielten, fur einen Aufklarer. Die anderen, die sagten, er bausche den Fall auf, um sich zu profilieren. Wirth sagt, man habe ihn gleich zu Anfang gewarnt, dass der Brandmelder haufig fur den Brand verantwortlich gemacht werde. Er habe darauf nicht gehort.

Die Chancen fur eine Verurteilung waren zu gering

Seit Anfang November 2012 ist der Fall Cojobo juristisch abgeschlossen. Gegen den Pater wurde keine Anzeige erhoben. Die beiden beteiligten Staatsanwaltschaften, Bonn und Koln, begrundeten das so: Selbst, falls der Pater tatsachlich sexuelle Gefuhle hatte, als er den Schulern die Zapfchen gab: Man konnte es ihm nicht beweisen.

Er konnte sich immer darauf berufen, aus medizinischen Grunden gehandelt zu haben. Bald konnte der Pater wieder im Schuldienst tatig sein. Noch wartet er darauf, dass ihm das Erzbistum und die Bezirksregierung grunes Licht geben. Beide Seiten, Orden und Anklager, halten das fur eine Zumutung. Die einen, weil der Pater seit Monaten in der Luft hangt. Die anderen, weil er uberhaupt wieder an die Schule zuruck soll.

Fur die beiden Schuler, R. und L., geht bald das erste Jahr an ihrer neuen Schule zu Ende. "Fur meinen Sohn war es nicht so leicht dort in den ersten Monaten", sagt Frau L.. Vielleicht liege es daran, dass er niemandem erzahlen konne – oder wolle, warum er weg sei vom Cojobo.

Mathias Wirth, der Theologe, ist jetzt evangelisch. Wenn er seine Doktorarbeit beendet hat, will er evangelischer Pfarrer werden. Obwohl er derzeit in Hamburg arbeitet, ist er haufig im Rheinland. Er halt Kontakt zu den Muttern der beiden Jungen, die die Strafanzeigen gestellt haben. Es scheint, als fuhlten die drei sich als eingeschworene Gemeinschaft.

Als im November die Generalstaatsanwaltschaft die Beschwerde ablehnte, berieten die drei gemeinsam mit ihrem Anwalt, ob sie weitermachen sollten. Durch ein sogenanntes Klageerzwingungsverfahren hatte sich der Pater doch noch vor Gericht verantworten mussen. Letztlich entschieden sie sich dagegen. "Ein paar Mal haben mein Mann und meine Kinder schon gesagt: Mama, jetzt lass es gut sein", sagt Frau R..

 

 

 

 

 




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