| Komponist: Ich Wurde Im Internat St. Stephan Missbraucht
By Rudiger Heinze
Augsburger Allgemeine
April 8, 2013
http://www.augsburger-allgemeine.de/augsburg/Komponist-Ich-wurde-im-Internat-St-Stephan-missbraucht-id24740526.html
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Der in München lebende Komponist Wilfried Hiller hat schwere Vorwürfe gegen zwei Benediktiner-Patres vom Gymnasium St. Stephan erhoben. Sie sollen ihn missbraucht haben.
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Wilfried Hiller im Gymnasium St. Stephan Augsburg Anfang der 50er Jahre
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Der in München lebende Komponist Wilfried Hiller hat schwere Vorwürfe gegen zwei Benediktiner-Patres vom Gymnasium St. Stephan erhoben. Sie sollen ihn missbraucht haben.
In einem Interview unserer Zeitung spricht Wilfried Hiller erstmals öffentlich von mehrfachem sexuellen Missbrauch sowie von schwerer körperlicher Züchtigung Mitte der fünfziger Jahre, als er Schüler der Institution war. Erst heute, nahezu 60 Jahre nach den Vorfällen, könne er offen darüber sprechen, weil er sie – auch künstlerisch – verarbeitet habe. Die Namen der beiden bereits verstorbenen Beschuldigten sind unserer Redaktion bekannt.
Mit den Vorwürfen Hillers konfrontiert, erklärte der Abt von St. Stephan, Theodor Hausmann: „Wir werden uns dem stellen. Das sind wir Wilfried Hiller, dem Gymnasium und dem Kloster schuldig.“ Im Falle des von Hiller wegen schwerer körperlicher Züchtigung beschuldigten ehemaligen Seminardirektors habe er, Abt Theodor, bereits in der Vergangenheit zweimal Vorwürfe der schweren Züchtigung sowie körperlicher Grenzüberschreitung entgegennehmen müssen. In einem Fall sei aufgrund der Glaubwürdigkeit der Darstellung sowie als Zeichen des Respekts vor dem Opfer eine freiwillige Entschädigungssumme von 5000 Euro nach den Richtlinien der Bischofskonferenz geflossen. Eine Wiedergutmachung könne dies freilich nicht darstellen.
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Wilfried Hiller, 1941 in Weißenhorn (Landkreis Neu-Ulm) geboren, hat unter anderem zusammen mit dem Schriftsteller Michael Ende viel aufgeführte Musiktheater-Werke geschrieben – etwa „Der Goggolori“ (1985), „Die Jagd nach dem Schlarg“ (1988), „Das Traumfresserchen“ (1991) und „Der Rattenfänger“ (1993). Nach seinem Abitur am Augsburger Gymnasium St. Stephan studierte Hiller am ehemaligen Augsburger Leopold-Mozart-Konservatorium, dann an der Musikhochschule München. Seine Kompositionslehrer waren unter anderem Carl Orff und Günter Bialas.
Jetzt spricht Wilfried Hiller im öffentlichen Interesse erstmals über seine Augsburger Schulzeit – und schildert dabei sexuellen Missbrauch sowie Züchtigung. Die Folgen, so gibt er zu verstehen, überspannten als Bogen sein Leben – bis hin zu einer bilanzierenden Versöhnlichkeit heute.
Alle Vertreter christlicher Kirchen werden in Ihren Stücken negativ dargestellt. Und im „Rattenfänger“ kommt ein homosexueller Abt vor. Sie wären nicht der erste Künstler, der autobiografisches Material verwendet hätte. Ist es so?
Hiller: Ich war in meiner Kindheit lange an Lungentuberkulose erkrankt und kam in eine Kinderheilstätte in Mittelberg im Allgäu. Nach meiner Heilung und Entlassung wechselte ich Anfang der 50er Jahre in das damalige Internat St. Joseph des Augsburger Gymnasiums St. Stephan. Der Schulunterricht dort war ausgezeichnet mit hervorragenden Lehrern, nur mussten natürlich die Internatsschüler bis auf die Ferien ein Schuljahr lang im Internat bleiben. Das wurde für mich zu einer ungeheuren Belastung, die sich dann eben auch thematisch in meinen späteren Werken niederschlug. Bis zum Jahr 2004 konnte ich keine sakrale Musik schreiben.
Worin bestand konkret diese ungeheure Belastung?
Hiller: Es kam zu Übergriffen einiger Benediktiner-Patres. Mein Religions- und Englischlehrer hielt mich wiederholt zum Beichten an, da ich es seiner Meinung nach seit längerem nicht mehr getan hätte. Er bestellte mich zu sich – unter dem Zusatz, ich solle nicht in den Beichtstuhl, sondern in seine Zelle kommen. Da könne man besser sprechen. Und dort langte er mir dann in die Hose und massierte meine Hoden so lange, bis ich ejakulierte. Danach sagte er, ich könne nun wieder gehen. Beim ersten Mal wies ich ihn noch darauf hin, dass ich ja gar nicht gebeichtet hatte – worauf er erklärte, dass das nichts mache, meine Sünden seien mir dennoch vergeben. Aber ich solle mit niemandem darüber sprechen. Bei aller Tragik hatten diese Vorgänge auch ein komisches Ergebnis: In Religion bekam ich die Note Eins. Aber mit der englischen Sprache habe ich bis heute Probleme, weil ich immer an diesen Pater denken muss, wenn ich Englisch sprechen will.
Wann und wie oft fand das Geschilderte statt?
Hiller: Ich habe damals noch nicht wie später Tagebuch geführt, deswegen kann ich es nicht genau sagen, wie oft das passierte. Es war Mitte der 50er Jahre und fand rund fünf- bis zehnmal statt. Noch heute träume ich gelegentlich von diesen Begebenheiten und wache schweißgebadet auf.
Können Sie sagen, ob das von Ihnen Geschilderte – oder Vergleichbares – auch weiteren Internatsschülern passiert ist?
Hiller: Darüber weiß ich nichts. Mögliche andere Opfer haben ja sicherlich auch die Anweisung bekommen, darüber zu schweigen. Mein Problem war, dass ich mit niemandem darüber sprechen konnte.
Auch nicht mit Ihren Eltern?
Hiller: Mein Vater fiel 1944 im Krieg, und für meine Mutter waren die Vertreter der katholischen Kirche unantastbar. Ich musste dieses Problem selbst lösen und verarbeiten. So schrieb ich mehrere Jahre lang für den Fasching kurze Theaterstücke. Eines davon hieß: „Die Räuber von Hiller“. Darin nahm ich unter anderem unseren Seminardirektor aufs Korn, indem ich eine Szene erfand, bei der ein Großfabrikant telefonisch für seinen Sohn einen Platz im Internat von St. Stephan erbittet. Und der Seminardirektor antwortet nach anfänglicher Ablehnung: „Wie bitte – was – ach, wie frappant: Sie sind ein Groß – Großfabrikant und stiften eine große Spende? Ihr Sohn kommt dann in meine Hände! Natürlich ist noch Platz im Haus. (Ich schmeiß halt einen andern raus.)“ Diejenigen, die damals in meinem Stück nicht vorkamen, amüsierten sich köstlich, doch der Seminardirektor revanchierte sich bei mir für die Kritik in der folgenden Fastenzeit durch Schläge mit dem Bambusstab auf den nackten Hintern. Später schrieb er dann noch einen Brief an meine Mutter, in dem er ihr erklärte, ich sei eine Gefahr für alle Internatszöglinge, da ich homosexuell sei. Ich glaube, er tat dies, um prophylaktisch den Spieß umzudrehen. Dieser Seminardirektor war es auch, der meiner Mutter erklärte, ich könne froh sein, dass ich durch die Mönche zur Musik gekommen sei. Er spielte damit in infamer Weise auf die Tatsache an, dass ich mich häufig ins Musikzimmer flüchtete und hinter verriegelbarer Tür übte, wenn ich das Gefühl hatte, es könnte wieder etwas auf mich zukommen.
Wie reagierte Ihre Mutter auf den Brief?
Hiller: Meine Mutter begriff zunächst gar nicht, was das Wort homosexuell bedeutet, und als sie es durch Erkundigung erfuhr, maß sie dem keine Bedeutung bei.
Sie sprechen erst heute, fast 60 Jahre später, über all das, was passiert ist. Warum?
Hiller: Ich habe lange aus verständlichen Gründen gerungen – und auch lange Zeit mit meiner Frau darüber gesprochen. Sie redete mir immer – auch noch auf ihrem Sterbebett – zu, dass ich die Vorfälle erzähle. Aber tatsächlich kann ich dies erst jetzt, nachdem ich die Begebenheiten musikalisch verarbeitet habe – und das ist nicht so lange her.
Die Ereignisse in Ettal 2010 haben den Druck einer Offenlegung nicht beschleunigt?
Hiller: Sie haben es nicht beschleunigt, aber die Einstellung meiner Frau bestätigt.
Sie sind aber bis heute Mitglied der katholischen Kirche. Wieso?
Hiller: Auf diese Frage habe ich schon gewartet. Mein Oratorium „Der Sohn des Zimmermanns“ (2010) gibt eine Antwort darauf. Es ist der gregorianische Gesang, den ich in St. Stephan für ein Leben lang schätzen und lieben gelernt habe. Insofern bin ich der Kirche dankbar – aber natürlich auf eine ganz andere Weise, als es der Seminardirektor seinerzeit verstanden haben wollte. Inzwischen traf ich in Castel Gandolfo nach einer Aufführung meines Oratoriums „Augustinus“ auch den damaligen Papst Benedikt. Außerdem gibt es zwei Personen der christlichen Kirchen, denen ich volles Vertrauen schenke: Pater Roman Löschinger aus dem Kloster Roggenburg und Nürnbergs Regionalbischof Stefan Ark Nitsche.
Gibt es von Ihnen trotz allem, was vorgefallen ist, so etwas wie Versöhnlichkeit?
Hiller: Zunächst einmal bin ich nun all dies los. Ich fühle mich frei. Das zu sagen, ist meine Pflicht. Versöhnliche Töne habe ich im erwähnten Oratorium „Der Sohn des Zimmermanns“ am Ende in einem Epitaph angeschlagen. Dort erklingt, von allen auftretenden Chören gemeinsam gesungen, jenes „Agnus Dei“, das ich 1957 für St. Stephan komponiert habe. Eine weitere Versöhnung mit meiner Augsburger Zeit könnte in meinem nächsten Oratorium „Mirjam“ stattfinden – durch eine Musikalisierung der knotenlösenden Maria in St. Peter am Perlach.
Wilfried Hillers Frau, die Schauspielerin und Dramaturgin Elisabet Hiller-Woska, ist am 27. März 2013 gestorben.
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