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Tsunami in Rom

By Daniel Deckers
Frankfurter Allgemeine
March 1, 2013

http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/missbrauchsfaelle-im-vatikan-tsunami-in-rom-12099926.html


Charles Scicluna, Weihbischof in Malta, kritisiert ein „Defizit in der Priesterausbildung“

Charles Scicluna Anfang Februar in Rom: „Die Wahrheit macht uns frei“

Monsignore Scicluna hat zehn Jahre lang im Namen des Vatikan Missbrauchsfälle aufgeklärt. Er spricht zum ersten Mal über Schockwellen und Vertuschung, über den Zölibat und die Kraft der Wahrheit.

Monsignore Scicluna, im Oktober 2002 wurden Sie in der vatikanischen Kongregation für die Glaubenslehre mit der Bearbeitung aller Fälle sexueller Übergriffe von Geistlichen auf Minderjährige betraut. Wie kommt man zu dieser Aufgabe?

In der römischen Kurie war ich kein Neuling. Nach dem Studium des Zivil- und des Kirchenrechts hatte ich seit 1996 in dem Obersten Gerichtshof der katholischen Kirche, der Apostolischen Signatur, gearbeitet, unter anderem als Sekretär einer Kommission, die den Entwurf eines wichtigen Dokumentes erarbeitete, in dem es um Ehenichtigkeitsverfahren ging.

Dieses Dokument wurde im Jahr 2002 vom Heiligen Stuhl unter dem Titel „Dignitas connubii“ veröffentlicht. Während meiner Arbeit als Sekretär dieser Kommission war man allerdings schon in der Glaubenskongregation auf mich aufmerksam geworden.

Was hat ein Kirchenrechtler in der Glaubenskongregation verloren, noch dazu als „promotor iustitiae“, frei übersetzt als Kirchenanwalt?

Die Glaubenskongregation war nie nur eine Behörde, sondern immer auch eine Gerichtsinstanz. In ihre Zuständigkeit fällt die Ahndung der schwersten Delikte, die es im Recht der Kirche gibt, etwa des Bruchs des Beichtgeheimnisses oder der sakramentalen Lossprechung von Mittätern in der Beichte. In solchen Verfahren gibt es einen Kirchenanwalt, „promotor iustitiae“ genannt. Dieser Posten war seit 1995 vakant und wurde 2002 neu besetzt.

Als Reaktion auf den Missbrauchsskandal in den Vereinigten Staaten, der in jenem Jahr weltweit Wellen schlug?

Nicht direkt. Schon im April 2001 hatte Papst Johannes Paul II. die Zuständigkeit der Glaubenskongregation um das Delikt „sexueller Missbrauch“ erweitert. Nun brauchte man einen Juristen, der sich ständig mit dieser Materie beschäftigte. Also holte man mich im Januar 2002 auf Probe in die Glaubenskongregation und ließ mich einen speziellen Missbrauchsfall bearbeiten, der dort mehrere Jahre liegengeblieben war, weil man kein Personal hatte.

Danach trug man mir nach Verhandlungen zwischen Kardinal Pompedda, dem Chef des Obersten Gerichtshofs, und Kardinal Ratzinger, dem Präfekten der Glaubenskongregation, an, das Amt des Kirchenanwalts zu übernehmen.

Wer und was stand hinter der Neuordnung der Zuständigkeit im Vatikan? Kardinal Ratzinger?

1997 war in der Glaubenskongregation eine Kommission eingerichtet worden, die die Verfahren mit den Normen des Kirchenrechts in Einklang bringen sollte, das Papst Johannes Paul II. im Jahr 1983 in Kraft gesetzt hatte. Zur selben Zeit wurde die Kongregation gebeten, Vorwürfen gegen den Grün-der der „Legionäre Christi“, den Mexikaner Marcial Maciel Degollado, nachzugehen.

Einige frühere Mitglieder dieses Ordens hatten glaubhaft darlegen können, dass Maciel im Zusammenhang mit dem Missbrauch von Minderjährigen auch Delikte begangen hat, die schon immer in die Zuständigkeit der Glaubenskongregation fielen, allen voran die Lossprechung von Mittätern. Die Kongregation wurde also über den Umweg ihrer eigentlichen Zuständigkeiten auf das Thema Missbrauch aufmerksam.

Warum brauchte es diesen Umweg?

Ein Problem war, dass das neue Kirchenrecht von 1983 die Ahndung sexuellen Missbrauchs nicht dem Vatikan vorbehalten hatte. Vielmehr hatte man im Geist des II. Vatikanischen Konzils den einzelnen Bischöfen überlassen, Missbrauchsfälle zu regeln. Es gab auch keine Pflicht, solche Fälle nach Rom zu melden, wohl aber mehrere Instruktionen zum Umgang mit Missbrauchsfällen, die auf dem Kirchenrecht des Jahres 1917 basierten.

Diese waren nach 1983 aber nicht erneuert oder aktualisiert worden. Kardinal Ratzinger hatte dieses Problem schon früh erkannt. Als Präfekt der Glaubenskongregation wandte er sich schon in den frühen neunziger Jahren an den Obersten Gerichtshof, weil dieser auch für die Klärung von Kompetenzen innerhalb der Römischen Kurie zuständig ist. Ratzinger bat um Klärung, wer im kirchlichen Rechtsraum für die Verfolgung dieser Straftat zuständig sein solle: die Kleruskongregation oder die Glaubenskongregation.

Nach allem, was man weiß, kam die Kommission des Obersten Gerichtshofs nicht recht voran.

Die Kommission war nicht gut organisiert und arbeitete zum großen Verdruss von Kardinal Ratzinger ziemlich chaotisch. Es brauchte drei Jahre, um einen Entwurf neuer Verfahrensvorschriften fertigzustellen. Johannes Paul II. hat diese Vorschriften dann im April 2001 in Form eines Motu Proprio unter dem Titel „Der Schutz der Heiligkeit der Sakramente“ (Sacramentorum sanctitatis tutela, SST) gutgeheißen.

Sexueller Missbrauch war allerdings erst in der Schlussphase der Beratungen in die Liste der Delikte eingefügt worden, deren Behandlung der Glaubenskongregation vorbehalten war, und zwar auf Betreiben der Mitarbeiter Ratzingers und einer Kommission von Kirchenrechtlern. Einer der Gründe für diese Entscheidung war, dass die Kleruskongregation, die über Disziplinarfragen zu entscheiden hat, kein Gerichtshof war und als solche keine Strafprozesse führen könnte, wie es bei der Glaubenskongregation der Fall war.

Vor dem Jahr 2001 erfuhr Rom über Missbrauchsfälle demnach so gut wie nichts, oder wenn, dann per Zufall oder auf Umwegen?

In den neunziger Jahren schien das Thema Missbrauch auf Kanada und die Vereinigten Staaten beschränkt. Dort waren seit den achtziger Jahren so viele Fälle öffentlich geworden, dass Kardinal Sodano in seiner Eigenschaft als Staatssekretär am 25. April 1994 mit Zustimmung des Papstes die amerikanischen Bischöfe ermächtigte, sich aller Missbrauchsfälle anzunehmen, in denen die Opfer höchstens 18 Jahre alt waren.

Nicht 16, sondern 18?

Ja, die Altersgrenze für den kirchenrechtlichen Straftatbestand Missbrauch von Minderjährigen wurde zunächst nur für die Vereinigten Staaten auf 18 Jahre angehoben. Heute gilt diese Norm weltweit. Darüber hinaus wurde erstmals eine Verfahrensvorschrift erlassen, wonach Verfahren gegen Geistliche auf der Ebene des jeweiligen Bistums geführt werden sollten.

Zur Berufungsinstanz wurde die Römische Rota bestimmt, das höchste Berufungsgericht in der Kirche. Die Glaubenskongregation war Mitte der neunziger Jahre mit dem gesamten Procedere nicht befasst.

Es gibt Berichte, dass in den späten neunziger Jahren unter den Kardinälen ein heftiger Kampf darüber tobte, ob man gegen den Gründer der Legionäre vorgehen sollte. Mächtige Kardinäle hielten ihre Hand über Maciel Degollado, doch am Ende setzte sich Ratzinger durch.

Die Sitzungsprotokolle lassen keine Rückschlüsse darauf zu, wie die Fronten damals verliefen. Die Kardinäle, die damals dabei waren, könnten mehr wissen.

Was wussten Sie über sexuelle Übergriffe von Klerikern, ehe Sie in der Glaubenskongregation für diese Fälle zuständig wurden?

Nicht viel. Als ich mich Mitte der neunziger Jahre im Obersten Gerichtshof erstmals mit Missbrauchsfällen beschäftigen sollte, musste ich mir erst das gesamte Vokabular aneignen.

Warum im Obersten Gerichtshof?

Der Oberste Gerichtshof ist auch für die formelle Überprüfung von Rechtsakten anderer vatikanischer Behörden zuständig. In einem meiner ersten Missbrauchs-Fälle ging es um einen amerikanischen Priester, der in einer Gemeinde Kinder und Heranwachsende missbraucht hatte und gemeinsam mit zwei anderen Priestern eine Art Pädophilenring gebildet hatte.

Der Priester war in seiner Gemeinde einflussreich und beliebt, er hatte ein eigenes Reisebüro gegründet und organisierte Pilgerreisen. Seine Opfer lud er vorzugsweise auf Kreuzfahrten ein. Einige Opfer wandten sich indes an den zuständigen Ortsbischof. Dieser entließ den Priester aus dem Dienst. Der Mann legte ge-gen diese Entscheidung in Rom Beschwerde ein. Die Kleruskongregation wies die Beschwerde zurück. Auch wir gaben dem Bischof Recht.

Eine Berichtspflicht des einzelnen Bischofs nach Rom gab es demnach bis zum Jahr 2001 nicht?

Nein. Daher begann meine Arbeit in der Glaubenskongregation auch mit einem Schock. Die schiere Masse der Fälle, die nach den neuen Bestimmungen von SST in Rom gemeldet wurden, war wie ein Tsunami. 2003 waren es 800 Fälle - aktuelle und alte, in 2004 kamen nochmals 700 hinzu - nur aus den Vereinigen Staaten. Und der Rest der Welt, auch Deutschland, war noch nicht aufgewacht. Insgesamt habe ich in meiner Zeit etwa 4.000 Fälle gesehen.

Wie wollte eine Handvoll Kirchenrechtler unter dem „promotor iustitiae“ binnen weniger Jahre Tausende Fälle behandeln?

Nach wenigen Monaten wurde mir klar, dass wir in diesem Tsunami ertrinken würden. Die neuen Regeln waren wie eine Zwangsjacke. Ich ging zu Kardinal Ratzinger und sagte ihm: „Wir können diese Masse von Fällen nicht mit einem Regelwerk bewältigen, das so komplex ist, dass es drei oder vier Verfahren im Jahr zulässt. Wir haben zwei bis drei neue Fälle am Tag!“ Zum Glück besaß Kardinal Ratzinger das uneingeschränkte Vertrauen von Papst Johannes Paul II. Was immer er erbat, wurde ihm gewährt.

Also sagte ich ihm: „Eminenz, Sie müssen zum Papst gehen und ihn bitten, dass er uns besondere Vollmachten gibt, um die eindeutigen Fälle auf dem Verwaltungsweg beschleunigt zu bearbeiten und nicht, wie es das Motu Proprio vorsieht, in jedem Fall ein reguläres Gerichtsverfahren durchführen zu müssen.“ So geschah es. 2003 gab es also spezielle Vollmachten für einen Strafprozess im Verwaltungswege. Heute sind diese speziellen Vollmachten in das gewöhnliche Recht integriert.

Auf einmal zeigte die Lernkurve im Vatikan steil nach oben. Warum?

Der öffentliche Druck, vor allem durch die Medien, war sehr wichtig. Aber wir haben auch sehr unter der Demütigung und dem Ansehensverlust der Kirche in der Öffentlichkeit gelitten. Damals wurde uns klar, dass es von Rom aus nur eine Antwort auf die Skandale geben kann: Wir müssen unsere Arbeit tun, und das so schnell und so gründlich wie möglich.

Schnelligkeit geht in der Regel nicht mit Gründlichkeit einher.

Sicher braucht Gerechtigkeit seine Zeit. Aber diese darf nicht auf Kosten der Opfer gehen, die auf eine Reaktion auf ihre Berichte warten. Auch die Familien und Gemeinden müssen wissen, was passiert ist. Priester warten auf eine definitive Entscheidung über ihr Schicksal, und auch die Bischöfe wollen wissen, woran sie mit diesem oder jenem Priester sind. Also haben wir uns entschieden, als Supervisionsbehörde zu arbeiten. Wir geben so viele Fälle wie möglich zur Entscheidung in die Diözesen zurück.

In Deutschland hatten die katholischen Bischöfe im Herbst 2002 Richtlinien zum Umgang mit Fällen sexuellen Missbrauchs beschlossen, ohne dass sie oder die Öffentlichkeit in den Jahren danach von dem Thema viel Aufhebens machten. Viele hielten Missbrauch damals für ein Problem der Amerikaner. Wie ist die Wahrnehmung des Problems in der Kirche heute?

Die Glaubenskongregation war in den ersten Jahren mit einer beträchtlichen Zahl an Missbrauchsfällen aus den Vereinigten Staaten konfrontiert. Aus allen Teilen der Welt kamen Meldungen, wenn auch in geringer Zahl. Wir hatten es auch mit erheblichen Problemen auf dieser Seite des Atlantiks zu tun, etwa in Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Österreich, Italien, Polen und Malta.

Nach seiner Wahl zum Papst wurde Benedikt XVI. beschuldigt, sich in Missbrauchsfällen nicht korrekt verhalten zu haben.

Benedikt XVI. war in einer Zeit Erzbischof von München und Freising, in der man über Pädophilie anders dachte als heute. Ich habe viele Akten aus den siebziger und frühen achtziger Jahren gesehen, in denen sich Gutachten von Psychiatern finden, die Tätern eine vollkommene Heilung attestierten und uneingeschränkt positive Prognosen formulierten.

Kardinal Ratzinger gehörte zu den wenigen Bischöfen, die so umsichtig waren, dass sie fachlichen Rat einholten, auf den sie sich auch verlassen konnten. Leider wurden einige der Täter trotz aller Prognosen rückfällig. Heute erklären die Fachleute einen für verrückt oder unverantwortlich, wenn man einer Person, die übergriffig geworden ist, einen Persilschein ausstellen wollte. Der Risikofaktor ist niemals null.

Bis heute hält sich die Interpretation, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen Zölibat und sexuellem Missbrauch. Was wissen Sie?

Ich habe in zehn Jahren 4.000 Fälle gesehen. In allen Fällen waren die Täter zölibatäre Männer – sonst hätte ich sie nicht gesehen. Es wäre aber abwegig, alleine daher auf einen Kausalzusammenhang von Zölibat und Missbrauch zu schließen. Wir haben Hinweise, dass Missbrauch auch in den Kirchen nicht unbekannt ist, in denen Geistliche verheiratet sind.

Die Frage, die sich uns stellt, ist eine ganz andere: Warum hat der Zölibat nicht als ein Extraschutz gewirkt. Ein Zölibatärer sollte gelernt haben, seine sexuellen Impulse zu kontrollieren. Daher haben wir es eher mit einem Defizit in der Priesterausbildung zu tun.

Ein renommierter amerikanischer Wissenschaftler von der Harvard Medical School, Michael Kafka, hat darauf hingewiesen, dass unter katholischen Geistlichen, die sich an Kindern oder Jugendlichen vergangen haben, überproportional viele Homosexuelle waren. Teilen Sie diese Einschätzung?

Als Jurist bin ich kein Fachmann für die Entstehung homosexueller Neigungen. Es gibt auch keine Statistik darüber, wie viele Täter homo- und wie viele heterosexuell oder auch bisexuell waren. In Afrika werden zumeist Mädchen oder Frauen Opfer von Übergriffen. In den Fällen, die der Glaubenskongregation aus allen anderen Regionen vorgelegt wurden, hatten sich die Täter in der Regel an Jungen im Alter von 14 bis 18 vergangen. Warum das so ist, müssen Psychologen erklären.

Was hat die Kirche aus den Missbrauchs-Skandalen der vergangenen Jahrzehnte gelernt?

Das erste ist, die Dinge, die man als richtig erkannt hat, auch zu formulieren und auszusprechen. Die erste Reaktion auf einen Übergriff ist das Verschweigen der Tat. Das Opfer steht unter Schock, kann über das Erlebte nicht sprechen und handelt nicht, weil der Schock so groß ist. Die Formulierung von Prioritäten ist dagegen der erste Schritt der Befreiung aus dem Schockzustand.

Welche Prioritäten?

Am wichtigsten ist die Ermächtigung von Gemeinschaften, Familien, Gruppen, Pfarreien, ja auch Bistümern. Alle müssen lernen, Geistlichen nicht blind zu vertrauen, sondern in ihnen – biblisch gesprochen – Verwalter einer Sache zu sehen, die der Herr ihnen anvertraut hat, und die Rechenschaft über ihr Handeln ablegen müssen.

Priester, Bischöfe, Kardinäle, auch der Papst müssen näher an das Volk gerückt werden. Sie sind Menschen wie Du und Ich, mit Stärken und Schwächen. Wir, die Geistlichen, müssen uns das Vertrauen erarbeiten, Tag für Tag. So steht es im Übrigen schon im Evangelium. Im Lukas-Evangelium heißt es, dass von dem Verwalter, dem viel gegeben wird, auch viel verlangt wird. Das sagt Jesus ausgerechnet Petrus.

Wie sollen angehende Priester lernen, was es heißt, Rechenschaft abzulegen?

Durch Ausbildung. Wir müssen Führungspersönlichkeiten ausbilden, wie wir zugleich die Gemeinschaften stärken müssen. Dazu müssen wir verstehen, wie wertvoll die Unschuld von Kindern ist. Das muss in der katholischen DNS sein.

Weil Übergriffe aber nie ausgeschlossen werden können, müssen wir die Familien, Gruppen und Gemeinden in die Lage versetzen, die Anzeichen von Missbrauch zu erkennen und nicht wegzuschauen, sondern rechtzeitig und gut zu reagieren und die Wahrheit ans Licht zu bringen. Das ist nicht einfach. Manchmal ist die Wahrheit so schrecklich, dass wir uns vor ihr fürchten und nicht darüber sprechen wollen.

Aber die Wahrheit macht uns frei. Das ist das, wofür Jesus steht. Wenn wir Dinge verschweigen und vertuschen, werden wir niemals frei und Kinder des Lichtes sein. Wir müssen ein leuchtendes Beispiel dessen geben, was Fachleute als „best practice“ bezeichnen. Wir müssen Teil der Lösung sein, nicht Teil des Problems.

Haben Sie den Eindruck, dass alle Mitglieder der Kurie oder des Kardinalskollegiums diese Sicht teilen, die ja auch die Sicht von Papst Benedikt XVI. war?

Papst Benedikt XVI. war diese Sache ganz klar. Man muss sich nur noch einmal das in Erinnerung rufen, was der Papst im Dezember 2010 in seiner programmatischen Weihnachtsansprache gesagt. Er hat dabei eine Vision der heiligen Hildegard von Bingen zitiert, wonach das Gesicht der Kirche mit Staub bedeckt und ihr Gewand zerrissen sei – durch die Sünden der Priester.

Es wäre aber ungewöhnlich, wenn es in der Kirche nicht auch eine andere Sicht der Dinge geben würde. Wenn man die Kirche mit einem Schiff vergleichen wollte, dann finden wir in ihr viele Matrosen, aber nur einen Kapitän. Der bestimmt den Kurs. Meine Arbeit wird auch in Rom je nach dem, mit wem man es zu tun hat, unterschiedlich bewertet.

Die einen sagen: „Ihr müsst Eure Sache besser machen.“ Andere sagen: „Am besten macht Ihr gar nichts.“ Aber bis zu seinem Amtsverzicht gab Papst Benedikt die Linie vor. Was passiert – um im Bild zu bleiben –, wenn einer der Matrosen Papst wird, wird man sehen.

Der Vatikan könnte seine harte Haltung in Sachen Missbrauch revidieren?

Das halte ich für ausgeschlossen. Wie man in der Kirche mit dem Thema Missbrauch umgeht, hängt nicht davon ab, wer Präfekt der Glaubenskongregation oder der Kleruskongregation oder gar Papst ist. Das Entscheidende ist die Aufmerksamkeit der Familien, Gruppen und Gemeinden.

Deren Ermächtigung ist keineswegs unvereinbar mit der hierarchischen Struktur der Kirche. Die Unversehrtheit der „Kleinen“ ist ein viel höherer Wert. Wir wollen die Kirche Jesu Christi sein, die Prioritäten sind im Evangelium längst festgelegt.

Was hat die Kirche aus dem Missbrauchsskandal über die Ausbildung angehender Priester gelernt?

Ich würde sagen, nichts anderes als das, was Papst Johannes Paul II. in der Apostolischen Konstitution über die Priesterausbildung „Pastores dabovobis“ festgestellt hat: Ein Schlüsselelement ist die menschliche Reife eines zukünftigen Priesters. Das ist nicht nur eine Frage von Spiritualität oder Theologie, sondern ein lebenslanger Lernprozess, zu dem die Erkenntnisse der Humanwissenschaften viel beitragen können.

In vielen Ländern haben die Skandale der katholischen Kirche die Sensibilität dafür geschärft, dass sexueller Missbrauch von Kindern an vielen Orten und von unterschiedlichsten Tätern begangen wird – von Familienvätern bis zu Kinderschändern, die als Touristen nach Asien und Afrika fliegen. Kann die katholische Kirche aus ihrer eigenen Geschichte lernen und zum Anwalt der Kinder werden?

Ich kann gut verstehen, dass die Sünden in der Kirche die Schlagzeilen machen. Das ist für mich aber auch ein Zeichen der Hoffnung. Das bedeutet, dass die Welt noch nicht die Hoffnung aufgegeben hat, dass der katholische Klerus nicht die Orientierung an dem Ideal einer Lebensform aufgegeben hat, in der einer sein Leben einsetzt, um anderen zu dienen.

Wenn wir uns nicht an unserer Berufung messen lassen würden oder wollten, dann brauchte es uns nicht, und unsere Sünden wären nicht mehr in den Schlagzeilen. Wir sollten aber nicht nur dann Beachtung finden, wenn etwas falsch gelaufen ist, sondern auch, wenn wir etwas gut machen.

In dem Maß, wie die katholische Kirche selbst überall „best practices“ anwendet, könnte sie ein Vorbild sein für den Umgang mit Verbrechern in anderen Kontexten: Jugendorganisationen, Sportvereine, Schulen und andere Einrichtungen könnten sich an dem Vorbild der Kirche orientieren.

In München wurde vor gut einem Jahr ein „Zentrum für Kinderschutz“ ins Leben gerufen, das internetgestützte Lernmodelle entwickelt, um weltweit kirchliche Gruppen für das Thema Missbrauch zu sensibilisieren und richtige Verhaltensweisen zu trainieren. Was halten Sie davon?

Das „Zentrum“ ist ein kleines, aber wichtiges und vielversprechendes Teil eines großen Puzzles. Die Initiative ist noch in ihren Anfängen, aber ich verbinde mit ihr die Hoffnung, dass sie weit über den Raum der Kirche hinaus ausstrahlt. Wir müssen unsere leidvolle Erfahrung und unsere Expertise allen Menschen guten Willens zur Verfügung stellen.




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