| Der Mann Darf DAS
By Eva Waiblinger
Tages Anzeiger
November 15, 2012
http://www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/Der-Mann-darf-das/story/20473386
Die Historikerin Francisca Loetz untersuchte Falle sexueller Gewalt in Zurich von 1500 bis 1850. Manner hatten damals das Recht, ihre Sexualitat auszuleben. Fur Frauen zahlte vor Gericht einzig die Ehre.
Uberlandstrasse. Ein Zeuge hort Schreie und beobachtet, wie Jakob A. (24) mit offenem Hosenladen Reissaus nimmt. Im Strassengraben findet der Zeuge dann die junge Barbara U. (17): wimmernd, mit zerzausten Haaren und zerrissenen Kleidern. Der Fall kommt vor Gericht. Die Zurcher Richter erachten es als erwiesen, dass Jakob A. die Frau vergewaltigt hat, sehen jedoch von einer Bestrafung des Angeklagten ab, wenn dieser Barbara U. am darauffolgenden Samstag ehelicht. Barbara U. muss ihren Peiniger heiraten. Ein emporend ungerechtes Verdikt – nach heutigem Empfinden. Nicht so im Jahr 1656, als das Zurcher Gericht dieses Urteil fallte. Damals sah die Gesellschaft ein solches Urteil als angemessen und sinnvoll an.
Wo kein Klager, da kein Richter
Was eine Gesellschaft als rechtens und als tolerierbar betrachtet, hat die Historikerin Francisca Loetz von der Universitat Zurich anhand von Gerichtsfallen zu sexueller Gewalt im Kanton Zurich der Vormoderne untersucht. Ihre Ergebnisse hat sie eben in Buchform veroffentlicht: «Sexualisierte Gewalt 1500–1850: Pladoyer fur eine historische Gewaltforschung».
Ihre Forschung basiert auf 245 Fallen aus dem Zeitraum von 1500 bis 1850, die meisten stammen aus der Zeit nach 1800. Das macht im 19. Jahrhundert rund 2 Falle pro 100'000 Einwohner jahrlich. Im Vergleich zu heute ist dies sehr wenig: 2011 verzeichnete die Kantonspolizei Zurich rund 140 Falle sexueller Vergehen pro 100'000 Einwohner.
Schnelle Heirat
Heisst dies, dass es heute zu mehr sexuellen Ubergriffen kommt? Nein, sagt Francisca Loetz, es sei nur die Bereitschaft der Opfer gestiegen, vor Gericht zu treten. In ihrem Untersuchungszeitraum wurden Falle von Vergewaltigung und Missbrauch wohl oft aussergerichtlich gelost, beispielsweise durch eine schnelle Heirat, damit die betroffenen Frauen nicht verarmten und die Staatskasse belasteten. «Die Dunkelziffer muss enorm hoch gewesen sein», sagt Loetz.
Selbst wenn die Falle vor Gericht kamen, sind die uberlieferten Akten nach heutigen Vorstellungen sehr luckenhaft, sodass Loetz kein typisches Bild von Tater und Opfer und nur sehr wenig Information zu deren Beziehung daraus erschliessen kann. Das Gericht verhangte Zuchthaus- und Geldstrafen, aber auch Korperstrafen, vielen Tatern aberkannte es das Burgerrecht oder verwies sie des Landes. Nur 19 Angeklagte wurden freigesprochen, ein sehr geringer Anteil.
Eine Frage der Ehre
Wichtiger als Zahlenvergleiche sind Francisca Loetz jedoch die grundsatzlichen Unterschiede zwischen unserem heutigen Rechtsverstandnis und dem, was damals als sogenanntes rechtes Richten angesehen wurde. Fur die Richter zahlte nur die Ehre der Frau oder des Madchens. War ihre Ehre erst einmal zerstort und bei Unverheirateten das Jungfernhautchen zerrissen, schrankte dies die Chancen einer Frau auf dem Heiratsmarkt stark ein. Vor Gericht nicht relevant waren psychisch-traumatische Folgen einer Vergewaltigung, wie sie ein Gericht heute berucksichtigt.
Manner hingegen hatten grundsatzlich das Recht, ihre Sexualitat auszuleben. 1832 rechnete es das Gericht Heinrich Nussbaumer beispielsweise mildernd an, dass seine Ehefrau ihm wegen Krankheit nicht zur Erfullung der ehelichen Pflichten zur Verfugung stand. Wahrend 15 Jahren vergriff er sich immer wieder an seiner Tochter und schwangerte sie mehrfach.
Im Zweifelsfall kratzen
Das Gericht nahm damals auch an, dass sich eine Frau erfolgreich gegen einen Mann zur Wehr setzen konne. Wie Barbara U. musste sie zerrissene Kleider als Zeichen der Gegenwehr vorweisen. Wer sich zu wenig wehrt, bekommt nicht recht, musste eine 15-Jahrige feststellen. Sie sagte nur einmal: «Ich will nicht» und ergab sich dann dem 31-jahrigen Roy Z., den das Gericht darum vom Anklagepunkt der Vergewaltigung freisprach. Der Anwalt der 15-Jahrigen riet ihr, sie solle im Zweifelsfall kratzen. Andere Zeiten, andere Rechtsprechung?
In diesem Fall nicht. Es handelt sich um eine sehr aktuelle Tat von Mitte September 2012 aus Deutschland. Gemass Loetz gibt es hier «tatsachlich eine vollige Parallele zu den gerichtlichen Kriterien in meinem Untersuchungszeitraum, die Argumentation ist die gleiche geblieben. Solche Traditionen in der Rechtsprechung machen es den Opfern schwer, recht zu bekommen.»
Gewalt hat viele Facetten
Historische Gewaltforschung hat sich bisher fast ausschliesslich mit physischer Gewalt beschaftigt, mit Mord und Totschlag. Gewalt habe aber so viele andere Facetten, sagt Francisca Loetz, darum habe sie sich dafur entschieden, sexuelle Gewalt zu untersuchen. Sie gehort zu den ganz wenigen Historikerinnen, die Missbrauch an Kindern in der Zeit vom 16. bis zum 19. Jahrhundert zum Thema machen. Obwohl primar an eine historisch-wissenschaftliche Leserschaft gerichtet, ist ihr Buch auch fur interessierte Laien gut verstandlich.
Eine leichte Feierabendlekture ist es trotzdem nicht. Das belastende Thema, die beschriebenen Schicksale machen betroffen. Manchmal wunschte sich die Leserin dennoch, etwas mehr uber die Schicksale der Betroffenen zu erfahren. Loetz sagt dazu: «Wir wissen sehr viel einfach nicht, weil es nicht aktenkundig geworden ist.» Sie habe das Buch in Anerkennung aller Opfer sexueller Gewalt geschrieben: fur die, welche den Mut hatten, sich gegen Gewalt zu wehren und sie publik zu machen, aber auch fur jene, die bis heute verstummen, weil sie nicht genugend Unterstutzung finden.
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