| "Tatort Kinderheim": Erziehungsheime Waren "Zentren Der Gewalt"
Der Standard
September 17, 2012
http://derstandard.at/1347492713574/Tatort-Kinderheim-Erziehungsheime-waren-Zentren-der-Gewalt
Hans Weiss hat in seinem neuen Buch Vorgange in 135 Einrichtungen untersucht und liefert einen erschutternden Befund
Wien - Bis weit ins letzte Drittel des 20. Jahrhunderts hinein waren die Kinder- und Jugendheime in Osterreich "Zentren der Gewalttatigkeit und des sexuellen Missbrauchs". Zu diesem Befund kommt Hans Weiss in seinem Buch "Tatort Kinderheim", das am Montagabend in der Wiener Hauptbucherei prasentiert wird. Bei einigen Heimen habe es sich um regelrechte "Kindergulags" gehandelt, halt Weiss fest.
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Der mit Titeln wie "Bittere Pillen", "Schwarzbuch Markenfirmen - Die Machenschaften der Weltkonzerne" und "Schwarzbuch Landwirtschaft" bekanntgewordene Autor hat fur sein aktuelles Buch die Vorgange in 135 Heimen und Internaten untersucht. Mit 45 Zoglingen, die psychische, korperliche und sexuelle Gewalt erlebt haben, hat Weiss personlich gesprochen. Der Autor hat auch Tater und Taterinnen mit den gegen sie erhobenen Vorwurfen konfrontiert.
Sein Bericht fallt erschreckend aus. Mehr als 100.00 Kinder und Jugendliche sind seit 1950 durch geistliche und weltliche Erziehungsheime gegangen, wo etliche von ihnen weitgehend hilflos struktureller Gewalt zum Opfer fielen. Sie hatten Demutigungen, Ubergriffen und Folter uber sich ergehen lassen mussen, wobei weibliche Erzieher genau so grausam gewesen seien wie Manner. Buben seien eben so haufig vergewaltigt worden wie Madchen. Einige Institutionen wie das Klosterheim Edelhof in Rohrbach an der Golsen (Niederosterreich) entwickelten mit dem "Beinahe-Ertranken" eigene Foltermethoden.
Amputationen und Stromsto?e
In der psychiatrischen Kinderbeobachtungsstation Innsbruck wurden einem funfjahrigen Madchen wegen vorgeblichen Onanierens zwei Fingerglieder amputiert. Kinder, die in die Hose machten, wurden dort mit Stromsto?en "behandelt". Dutzende Minderjahrige bekamen das Hormon Epiphysan gespritzt oder wurden Versuchen mit Rontgenstrahlen ausgesetzt.
Kam es in kirchlichen Heimen oder Internaten zu Ubergriffen, waren diese laut Weiss in zwei Drittel der Falle sexuell motiviert. Im Klostergymnasium Mehrerau im Bregenzerwald trieb ein Pater sein Unwesen, der bereits 1967 wegen sexuellen Missbrauchs eines dreizehnjahrigen Buben gerichtlich verurteilt worden war. Obwohl er weiter an Heimkinder missbrauchte, wurde der Mann 1981 sogar zum Internatsleiter bestellt.
1982 vergewaltigte der Pater erneut einen Buben. Er wurde in weiterer Folge vom Mehrerauer Abt suspendiert. Der Abt brachte die Eltern des Buben dazu, auf eine Anzeige zu verzichten, indem er ihnen versicherte, der Pater werde keinen Kontakt zu Kindern mehr haben und keine Messen mehr lesen.
Unbehelligter sexueller Missbrauch
Nachdem der Pater nach Tirol versetzt worden war, wurde aber seine Suspendierung nur ein paar Monate spater wieder aufgehoben, weil er sich einer Psychotherapie unterzogen hatte und seinen Angaben zufolge von seinen padophilen Neigungen "vollends geheilt" war. Der Kinderschander bekam in einem Dorf im Otztal eine Pfarre ubertragen und durfte wieder Kinder betreuen und Religionsunterricht erteilen.
Obwohl insgesamt drei Innsbrucker Bischofe die Vorwurfe gegen den Geistlichen kannten und sich das 1982 missbrauchte Opfer mit seiner Leidensgeschichte sogar personlich an den damaligen Innsbrucker Oberhirten und nunmehrigen Salzburger Erzbischof Alois Kothgasser gewandt haben soll, blieb der Pater unbehelligt. Selbst als die Staatsanwaltschaft Feldkirch 2004 neuerlich Ermittlungen wegen sexuellen Missbrauchs aufnahm und der Verdachtige im Zuge einer Einvernahme gestand, in Mehrerau "funf bis zehn Schulern" missbraucht zu haben, blieb er im Otztal Pfarrer. Erst 2010 wurde er suspendiert, nachdem zahlreiche weitere Opfer des Paters an die Offentlichkeit gegangen waren und zwei von ihnen das Kloster Mehrerau zivilrechtlich auf Schadenersatz geklagt hatten.
Justiz mitverantwortlich
Weiss macht deutlich, dass er in all jenen Fallen, wo Vorgesetzte und Verantwortungstrager die Zustande in den ihnen unterstehenden Institutionen kannten bzw. kennen mussten, fur mitschuldig am Leid der betroffenen Kinder und Jugendlichen halt. Zu den "Schreibtischtatern" rechnet Weiss demnach auch die jeweiligen Justizminister, denen bis 1974 die beruchtigten Erziehungsheime Kaiser Ebersdorf und Wiener Neudorf direkt unterstanden. Auch der prominente Wiener Psychiater Erwin Ringel, der von 1952 bis Anfang der 1970er-Jahre im Madchenheim Wiener Neudorf als beratender Psychiater tatig war habe von der "vorbildlichen Arbeit der geistlichen Schwestern " geschwarmt, wahrend die untergebrachten Madchen in Wahrheit rohe Gewalt erdulden und unbezahlte Zwangsarbeit verrichten mussten.
Weiss' Fazit: "Wer Berichte ehemaliger Zoglinge uber den Alltag in dieser Erziehungsanstalt liest, muss zu dem Schluss kommen, dass Professor Ringel wahrend seiner jahrzehntelangen Tatigkeit offenbar mit geschlossenen Augen durch die Anstalt tappte und die Realitat nicht wahrnahm oder nicht wahrnehmen wollte." (APA, 17.9.2012)
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