| Konfrontation Mit Dem Eigenen Trieb
By Julia Juttner
The Spiegel
April 13, 2012
http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,823205,00.html
Jede Sexualstraftat hat eine Vorgeschichte. Oft schlummert der Ausloser ganz weit in der Vergangenheit. Klaus Weths Aufgabe ist es, ihn zu finden. Er ist Leiter der psychotherapeutischen Fachambulanz Wurzburg. Seit einem Jahr betreut er 85 Tater aus Franken.
Einer von ihnen ist Max H. Er sitzt auf einem schwarzen Ledersessel in einem lichtdurchfluteten Zimmer mit Blick in einen Innenhof. "Seit ich 19 Jahre alt bin, wei? ich: Ich fuhle mich auch zu Kindern hingezogen", sagt er. Heute ist Max H. 51 Jahre alt.
In den zuruckliegenden 32 Jahren hat er Karriere gemacht als Arzt, sich einen Ruf erarbeitet, eine Familie gegrundet. Und er hat Madchen ausgezogen, angefasst und den Missbrauch gefilmt. Er hat ihr Vertrauen und das ihrer Eltern zerstort, er kannte die Kinder, seit sie auf der Welt waren. Er wusste, sie wurden den Mund halten. "Kinder schutzen uns Tater, sie verraten uns nicht", sagt er.
Ein Madchen tut es 2008 doch. Max H. wird zu dreieinhalb Jahren Gefangnis verurteilt, seine Familie muss wegen der Anfeindungen in ein neues Zuhause fluchten. "Ich habe mein Leben an die Wand gefahren", sagt Max H. Wahrend der Untersuchungshaft muss er verlegt werden, weil er von Mithaftlingen bedroht wird. Acht Monate sitzt er in der JVA Straubing, 23 Stunden eingesperrt in einer Einzelzelle mit Videouberwachung, rund um die Uhr Deckenbeleuchtung. Die Anstaltsleitung befurchtet Suizid.
Wo sitzt die Wut?
"Ich war ein Macher, ich war uberdreht, ich war nicht heil", sagt Max H. und blickt durch seine John-Lennon-Brille. Der Absturz aus seinem wohl situierten Leben einerseits und die Aufdeckung seines geheimen Doppellebens andererseits zwingen ihn zur Besinnung. Noch halt seine Frau mit dem Kind zu ihm, noch ist nicht alles verloren.
In der Haft absolviert er eine 28 Monate dauernde Therapie. "Es war nicht meine schlechteste Zeit", sagt er, viel habe er uber sich gelernt. Seit Juli vergangenen Jahres ist er auf freiem Fu?, noch drei Jahre hat er Bewahrung.
Seit er wieder in Freiheit lebt, kommt er einmal pro Woche in die Fachambulanz Wurzburg. Immer setzt er sich auf diesen Sessel, nie auf das Sofa. Bei Klaus Weth darf jeder Platz nehmen, wo er will. Hauptsache er hat freie Sicht auf die Folientafel an der Wand, auf die Weth schwungvoll und mit wenigen Strichen einen Menschen zeichnet und fragt: "Wie, wo und welche Emotionen erleben Sie im Korper?"
Heute geht es um Wut. "Wo spuren Sie sie?", fragt Weth.
"Im Bauch."
"Wo? Im Unterbauch oder im Oberbauch?"
"Im Unterbauch."
"Wie genau fuhlt sie sich an?"
Max H. beschreibt die Wut ausfuhrlich, die Antworten gehen ihm leicht uber die Lippen. Der einst kopfgesteuerte Mediziner, eloquent und belesen, hat gelernt, auch seine Gefuhle in Worte zu fassen. Er wahlt sie behutsam aus.
Uberrascht sei er gewesen, sagt er, wie viele Menschen in seinem Umfeld seine Tat zwar fur verabscheuungswurdig hielten, aber einsahen, dass er lernen musse, seine Neigung in den Griff zu bekommen. Ihnen selbstbewusst zu begegnen, dabei hilft ihm Klaus Weth. Er muht sich um ein "luckenloses Nachsorgemanagement" fur Straftater wie Max H.
Weth ist ein wuchtiger Mann, mit Dreitagebart und frankisch rollendem "R". Einer, der bei der Therapie keinen Umweg geht, sondern den Sexualstraftater direkt an seinem Delikt packt - auch oder gerade weil die Konfrontation unangenehm ist. Die meisten reagieren misstrauisch, fast schuchtern. Dabei ist Missbrauch immer ein Ausdruck von Machtausubung - und ein Kind ist ein wehrloses Opfer.
"Taterarbeit ist Opferschutz"
Die Zahl der psychotherapeutischen Ambulanzen nimmt zu, inzwischen gibt es sie zumindest in Bayern in fast jeder gro?eren Stadt. Psychologen befassen sich dort mit dem Gefahrlichkeitsgrad von Sexualstraftatern vor oder nach der Haftentlassung oder mit Verurteilten, die nicht in Haft sind, aber eine Therapie als Bewahrungsauflage absolvieren mussen. Behandelt werden auch Freiwillige, die ihre sexuelle Neigung nicht in den Griff bekommen.
Trager der Fachambulanz Wurzburg ist die ortliche Caritas, die anderen angefragten Wohlfahrtsverbande hatten abgelehnt. "Allen ist dieses Thema zu hei?", sagt Clemens Bieber, Domkapitular und Vorsitzender des Bundesverbandes. Er wei?, dass die Arbeit mit Sexualstraftatern keine leichte ist. Bischof und Diozesanleitung hatten sofort eingewilligt. Vorwurfe, die Kirche kummere sich nur um die Tater und nehme zu wenig die Perspektive der Opfer ein, weist er zuruck. "Wirkungsvolle Taterarbeit ist der beste Opferschutz", betont Bieber.
Weth begegnet seinen Patienten mit einer Mischung aus empathischer Zuwendung fur den Menschen und Konsequenz gegenuber der Straftat. Und wieder die Frage: "Wie, wo und welche Emotionen erleben Sie wahrend des Missbrauchs im Korper?" Weth braucht von den Mannern ehrliche, offene Antworten uber ihre Empfindungen.
Nur das hilft, Manipulationsversuche der Klienten im Zaum zu halten. Gefuhle kann man zwar erfinden oder verschweigen, aber wer lugt, braucht ein gutes Gedachtnis - und ein besseres als Klaus Weth. Der kann sich alles merken, was seine Klienten in Sitzungen gesagt haben. "Der Korper ist eine Riesenfestplatte, er speichert alle Emotionen ab, die man immer wieder abrufen kann."
Ein Restrisiko bleibt
Als Uwe B. in der Wurzburger Ambulanz fur Sexualstraftater erscheint, erzahlt er von seinen Angsten und von einer Leere, die er mit dem Konsum von Kinderpornografie ausgeglichen habe. Die Bilder auf seinem Computer wurden entdeckt, er wurde fristlos entlassen.
Der 45-Jahrige dachte an Suizid, landete in der geschlossenen Psychiatrie. Ohne den Beistand seiner Frau ware er gesprungen. An einem Donnerstag wurde er entlassen, montags drauf klingelte er bei Klaus Weth. Es ist eine Bewahrungsauflage, die ihm Hoffnung gibt.
Zweimal pro Woche sitzt er hier auf der Couch, inzwischen genie?t er die offene Aussprache. Anfangs musste er sich nach jeder Sitzung drau?en hinsetzen, durchatmen, nachdenken. "Wenn man seine Emotionen ordentlich bespricht, ist das sauanstrengend", sagt auch Weth. Heute, an einem Fruhlingstag im Marz, gehort das langst zu Uwe. B.s Leben. Direkt nach der Sitzung wird er zum Kindergarten marschieren, seine Tochter abholen, mit ihr in den Garten gehen.
"Ich muss uber meine Gefuhle reden, nur so kann ich bestehen", sagt Uwe B., ein hochgewachsener Mann, der beim Lachen viele Zahne zeigt. Er hat in den vergangenen Monaten erstmals ein Selbstwertgefuhl aufgebaut und so sein Doppelleben abgelegt. Mit der psychotherapeutischen Hilfe in der Ambulanz erlebt er seine Emotionen im Korper und macht den Kopf frei fur neue Gedanken.
"Interessant wird es nur, wenn etwas schief geht"
Uwe B. spricht von seinem neuen Leben, seiner zweiten Chance, die er nutzen will. Wie lange er therapiert werden muss, hangt vom Gefahrlichkeitsgrad und dem Ruckfallrisiko ab. Die Verantwortung tragt Klaus Weth. Manchmal hocken vier, funf Leute in seinem Buro und beratschlagen. Ihr Ziel: kein weiteres Opfer, kein Ruckfall eines Taters.
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Am Ende jeder Sitzung fragt Weth seine Probanden, wie hoch sie ihre Ruckfallgefahr einschatzen. In der Regel reduziert sie sich von Mal zu Mal, manchmal aber weicht sie auch deutlich von Weths Einschatzung ab. Uwe B. konne man eigentlich bald gehen lassen, sagt Weth, ware da nicht dessen qualende Zukunftsangst. Einer, der Kinderpornos auf dem Rechner hatte, findet nur schwer einen neuen Job.
Bei der Resozialisierung von Sexualstraftatern setzen immer mehr Experten auf forensische Ambulanzen. Die Sexualstraftater seien besser zu stabilisieren, wenn sie parallel einen realen Alltag leben konnen und nicht stationar weggesperrt seien, sagt Weth.
"Wir wissen, wenn einer ruckfallig wird, wird mit Tausenden Fingern auf uns gedeutet", sagt Domkapitular Bieber. "Interessant wird es ja nur, wenn etwas schief geht", sagt Weth. Bislang gab es zwei "Ruckfalle", wenn man Diebstahlsdelikte so bezeichnen will. Einer klaute einen Flachmann fur 89 Cent, ein anderer einen Fahrradschlauch fur 7 Euro und 99 Cent. Er wollte zu einem Bewerbungsgesprach radeln.
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