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Deutsche Priester Am Ende Ihrer Krafte

The Welt
April 9, 2012

http://www.welt.de/politik/deutschland/article106162706/Deutsche-Priester-am-Ende-ihrer-Kraefte.html

Sie sind uberarbeitet, verlieben sich oder verlieren den Glauben. Das alles ist bei Geistlichen nicht vorgesehen und wird verschwiegen. Wie sie damit umgehen – ein Besuch in Kirchen und Klostern. Von Stephan Seiler

Das Recollectio-Haus in Munsterschwarzach. Hier wird Geistlichen geholfen, die nicht weiterwissen

Die Verzweifelten sitzen hinten. In den letzten Reihen der kleinen Kirche, im Halbdunkel; die kleinen Fenster lassen nur wenig Licht herein. Es ist ein karger Raum, es gibt keinen Weihrauch hier, keine Wandmalereien, keine Reliquien, kein Pomp, nur ein Holzkreuz, das den Altarraum uberragt.

Die Verzweifelten tragen Strickpullover und Westen. Sie tragen keine Talare mehr, keine Gewander. Bis vor Kurzem waren sie Priester, Nonnen und Monche. Was sie jetzt sind, wissen viele von ihnen nicht genau, zumindest im Moment nicht.

Die Mittagsandacht ist fast voruber, als die Orgel verstummt und ein Monch des Benediktinerordens aus dem Altarraum ans Pult tritt. Der bartige Mann liest Vers 17, Psalm 25: "Die Enge meines Herzens mache weit, und fuhre mich heraus aus meinen Bedrangnissen." Dieser Vers ist haufiger zu horen in den Andachten hier. Er passt zu den Gasten in den letzten Reihen. Sie rufen im Chor "Amen".

Sie sind hierher, in das Kloster Munsterschwarzach bei Wurzburg gekommen, weil sie in einer Krise stecken. Sie haben als Geistliche ihr ganzes Berufsleben damit verbracht, anderen zu helfen, und nun wissen sie selbst nicht mehr weiter. Sie konnen keinen Trost mehr spenden, weil sie selbst welchen brauchen.

Schutzraum fur Seelsorger

So wie Hans-Joachim Wahl, der Priester, der sich selbst verloren hat, weil er standig fur andere da war.

So wie Matthias Woll, der Monch, der sich nicht entscheiden konnte zwischen den beiden Lieben seines Lebens.

So wie Michael Stanke, der Dorfpfarrer, der verzweifelte, als er Gott nicht mehr spurte.

Es ist noch nicht so lange her, da sa?en auch sie hier in der Abteikirche. Drei Monate lebten sie im Recollectio-Haus, einem gelben Flachdachbau gleich nebenan; im Schatten der Sandsteinturme, die das grune Tal uberragen, das der Main hier in die unterfrankische Erde gegraben hat. Oder Gott, je nach Glauben.

Der kleine Ort Schwarzach mit seinen 3600 Einwohnern besteht aus nicht viel mehr als dem 1223 Jahre alten Benediktiner-Kloster. Hier betreibt die katholische Kirche ihr eigenes Therapiezentrum fur verzweifelte Wurdentrager. Es ist zum Schutzraum geworden fur Seelsorger, deren Seelen krank wurden.

Ihr Beruf wird wie kaum ein anderer idealisiert

Diesen Schutzraum hat Wunibald Muller geschaffen. Der 60-Jahrige sitzt in seinem Buro im Erdgeschoss, an einem dunklen Holzschreibtisch. Hinter ihm hangt ein gruner Vorhang, wie man ihn aus Krankenhausern kennt, auf dem Boden steht eine Tonvase. Er tragt einen brauen Wollpullover und eine randlose Brille.

Wunibald Muller im Recollectio-Haus

Er hat die Augen halb geschlossen, sein Blick geht ins Leere. Wunibald Muller denkt nach. Ob er stolz sei, war die Frage. Stolz darauf, dass sein Recollectio-Haus auf Monate ausgebucht sei. Er offnet die Augen. "Naturlich freue ich mich", sagt er, "andererseits empfinde ich keine Freude, dass immer mehr Priester psychologische Hilfe brauchen. Der Erfolg des Hauses hat fur mich einen bitteren Beigeschmack."

Wunibald Muller hat mehrere Rollen in diesem Haus. Er ist Psychotherapeut, Theologe, Kirchenkritiker und deren Diplomat in Personalunion. Alles wegen der Kirche, alles fur die Kirche – und das alles trotz der Kirche, so wie sie sich derzeit prasentiert.

Das Verhaltnis der Gesellschaft zu dieser Kirche, zu den Priestern, ist ein paradoxes. Ihr Beruf wird wie kaum ein anderer idealisiert. Als Mittler zwischen Gottheit und Menschen haben viele Glaubige eine heilige Vorstellung von ihnen.

"Nach der landlaufigen Annahme mussen Priester mit Problemen leichter umgehen. Weil sie in eine Gemeinde eingebunden sind und ihre Spiritualitat ihnen als unerschopfliche Kraftquelle zur Verfugung steht", sagt Muller.

Viele ziehen sich innerlich zuruck

Das stimmt aber so offenbar nicht. Es kommen immer mehr Priester zu Muller. Viele von ihnen sind uberarbeitet, weil Gemeinden zusammengelegt wurden. Andere leiden unter spirituellen Zweifeln. Und nicht wenige sehen sich seit den Missbrauchsskandalen dem Generalverdacht ausgesetzt, auch einer derjenigen zu sein, die sich an Minderjahrigen vergehen. Manche wurden auf der Stra?e beschimpft oder bespuckt, einfach weil sie als Priester zu erkennen seien, erzahlt Muller. Sie fuhlten sich als Au?enseiter.

Dabei haben viele selbst Schwierigkeiten, das zu vertreten, was ihre Kirche lehrt. Mehr und mehr Pfarrer ziehen sich innerlich zuruck. Ihnen fallt es schwer, Freundschaften einzugehen, weil sie glauben, dass jede emotionale Beziehung zu einem anderen Menschen dem Zolibat widersprechen konnte. Einige vereinsamen, lenken sich mit Computerspielen, Pornografie oder Alkohol ab. Und dann gibt es jene Priester, die sich nicht entscheiden konnen zwischen ihrem Amt und einer Frau.

Undenkbar, uber all diese Probleme mit dem Pfarrgemeinderat offen zu reden. Unmoglich, sich damit einem Bischof anzuvertrauen. Deshalb stapeln sich auf Mullers Schreibtisch die Briefe mit Aufnahmewunschen von Priestern, Nonnen und Monchen.

"Fruher dachte ich immer, Priester sind glucklich"

Auch Hans-Joachim Wahl hatte einen solchen Brief geschrieben. Es ist nicht schwierig, den Dekan kennenzulernen. Man muss nur an der Holztur des Pfarramtes von Bad Nauheim klopfen. Er offnet sofort. Das, konnte man sagen, ist auch schon Teil seines Problems. Denn in der Vergangenheit hat Wahl zu haufig seine Tur geoffnet.

Hans-Joachim Wahl

Er gehort zu jener Sorte Priester, denen es schwerfallt, Nein zu sagen. Die sich jeder Kleinigkeit annehmen. Er will ja niemanden enttauschen. Das spricht sich schnell herum.

Hans-Joachim Wahl sieht nicht aus wie ein Mensch, der schnell verzweifelt. Der 52-Jahrige ist ein kraftiger Mann mit Glatze und freundlichem Gesicht. Es wird schnell rot, wenn Wahl lacht. Und er lacht viel. Auch traurige Anekdoten versieht er mit einer Pointe. Und den Rest verniedlicht sein hessischer Dialekt. "Fruher dachte ich immer, Priester sind glucklich mit dem, was sie machen", sagt er. Mehr nicht. Als ware ohnehin klar, wie sein Satz weitergehen musse.

Wahl stammt aus einem kirchennahen Elternhaus. In seinem Abiturjahrgang haben von 130 Schulern funf Theologie studiert. Damals, Anfang der 80er-Jahre, lie?en sich in Deutschland 200 bis 300 junge Manner pro Jahr zum Priester weihen. Im Jahr 2010 verzeichnete die Statistik der Deutschen Bischofskonferenz 80 – so wenig wie nie zuvor.

Freie Wochenenden gibt es nie

Hans-Joachim Wahl hat sich diesen Nachmittag freigenommen. Er fuhrt vom Gemeindehaus ein paar Meter weiter heruber in die Sakristei seiner Kirche St. Bonifatius. Dort schlupft Wahl in sein "tertiares Geschlechtsmerkmal". Ein seltsamer Name fur ein grunes Messgewand. "Es ist, als ware es mit mir verwachsen, so haufig trage ich es", sagt Wahl, "es gibt Tage, an denen ich es kaum ausziehe."

Wahl faltet die Hande, wippt leicht vor und zuruck. Es ist ruhig, nur die einsame Gluhlampe uber ihm im Gewolbe surrt leicht. So viel Ruhe macht ihn nervos. Sie kommt selten vor in einer Mittelpunktgemeinde wie der seinen. 25 Pfarrgemeinden gehoren zu dem Dekanat, dem Wahl vorsteht; fur zwei ist er als Pfarrer zustandig.

"Nach meinem 20-minutigen Morgengebet um acht Uhr brauche ich mir im Pfarramt nichts Gro?es vorzunehmen – weil ich ja sowieso nicht dazu komme", sagt er. Laufend klingelt das Telefon, Besucher kommen spontan, um uber ein Gru?wort fur den Sportverein zu sprechen. Mittags trauen, taufen und beerdigen, Messdiener treffen, den Kirchenchor, die Kolpingsfamilie oder Strafgefangene im Gefangnis des Nachbarorts.

Abends mit Brautleuten, Angehorigen von Verstorbenen oder Eltern von Taufkindern sprechen; mit dem Pfarrgemeinderat tagen oder Gottesdienste in Altenheimen feiern. Zwischendurch und vorm Zubettgehen schnell Post und E-Mails beantworten. Freie Wochenenden gibt es nie. Sonntag ist der wichtigste Arbeitstag.

"Ich merkte, wie ich innerlich verdurste"

"Ich fuhle mich wie ein Soldat, stets in Uniform, stets im Einsatz, immer zur Stelle", sagt Wahl. Mit Soldaten kennt er sich aus. Elf Jahre lang reiste Wahl als Militarpfarrer von Kaserne zu Kaserne. Im Oktober 2001 wurde er von Bischof Karl Lehmann gefragt, ob er die Pfarrgemeinde in Bad Nauheim ubernehmen wolle. Mit vielen alten Menschen. Mit viel Arbeit. Er sagte Ja.

Ein Jahr spater fragte Lehmann ihn, ob er auch noch Aufsichtsratschef beim Bezirksverband der Caritas werden konne. Er sagte Ja. 2004 sprach Lehmann ihn abermals an. Ob er zusatzlich zu seinen anderen Aufgaben Dekan werden wolle. Das Amt entspricht dem eines Regierungsprasidenten. Ein Dekan vermittelt zwischen Bistum und Pfarrgemeinden. Ein Diplomatenjob, der allein schon tagesfullend ist. Noch mehr Briefe, noch mehr E-Mails, noch mehr Konferenzen, nur, dass zu diesen bis zu 130 Teilnehmer anreisen. Wahl sagte Ja.

Aber es gefiel ihm schnell nicht mehr. "Ich merkte, wie ich innerlich verdurstete", sagt Wahl. In Schwarzach am Main hatte Wunibald Muller eine ganz ahnliche Vokabel benutzt. Er sprach von "Gottesverdurstung", unter der immer mehr Priester leiden wurden. "Auf sie trifft der Satz des Schriftstellers Odon von Horvath zu: ‚Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme selten dazu.‘"

Wie im Wanderzirkus von Kirche zu Kirche

Dass die Priester trotz weniger Kirchenmitglieder immer mehr zu tun haben, liegt vor allem daran, dass immer weniger Menschen Priester werden wollen. Dazu kommen Sparzwange. Manche Pfarrer betreuen inzwischen funf Pfarreien. Im Essener Bistum sind 259 ehemals selbststandige Gemeinden zu 43 Gro?gemeinden zusammengefasst worden.

Die betroffenen Pfarrer fahren wie ein Wanderzirkus von Kirche zu Kirche. Fur einige ist das zu viel. Zu viel Wanderschaft und zu viel Zirkus. "Die Geistlichen sind immer mehr Verwalter und immer weniger Seelsorger", sagt Muller, "daran zerbrechen viele." Burn-out nennt man das Syndrom bei Managern. Muller hat eine andere Umschreibung gefunden: "Die Inneneinrichtung im Korper brennt aus."

Hans-Joachim Wahl, der Rastlose, lebt direkt neben der Kirche im Stockwerk uber dem Pfarramt. "Ich wunschte, ich wurde hier einfach nur wohnen. In Wahrheit befinde ich mich rund um die Uhr auf dem Prasentierteller", sagt Wahl, "das Gefuhl, dass standig jemand auf mich guckt, hat mich kaputt gemacht."

Und es bleibt nicht nur beim Gucken. Einmal sei er mittags mit einer Freundin zum Kaffee verabredet gewesen, erzahlt Wahl. Als sie am Pfarramt losfuhren, seien sie von einem Mitarbeiter aufgehalten worden. "Ich habe den Nistkasten fur die Eulen aufgestellt", sagte der, "konnen wir nicht schnell ein Foto fur die Lokalzeitung machen? Dauert nur funf Minuten." Wahl nickte, wie er es immer tat. "Wenn ich Nein sagen wurde, tragen mir das doch alle ewig nach."

Wahl fand dann einen anderen Weg, um die Arbeit zu kompensieren: essen. Er nahm 25 Kilogramm zu, pflegte kaum noch private Kontakte. Im Herbst 2008 konnte er nicht mehr. Das Predigen, das er so liebte, fiel ihm schwer, genau wie das Spielen auf der Kirchenorgel mit ihren 3500 Pfeifen. "Da musste ich einfach mal den Fu? rausstellen."

Jeder Tag ist getaktet

Wahl rief bei Wunibald Muller in Schwarzach an. Rund zwei Autostunden sind es von Bad Nauheim ins unterfrankische Schwarzach. Fur Hans-Joachim Wahl war es wie eine Reise in eine andere Welt. Das gelbe Gebaude bei der auf einer Anhohe thronenden Abteikirche sei fur ihn so etwas wie eine Reparaturwerkstatt gewesen, erzahlt er. Drei Monate lebte er mit 17 anderen Geistlichen. Wer hier aufeinandertrifft, ist einander in der Regel noch nie zuvor begegnet. Doch die Zufallsbekannten bilden sofort eine Schicksalsgemeinschaft.

Die Flure des Hauses sind karg, hier ein gerahmtes Blumenbild, dort ein Schwarzes Brett. Wusste man es nicht besser, konnte man Recollectio fur eine Jugendherberge halten. Im Foyer sitzen Pfarrer um ein verstimmtes Klavier herum und unterhalten sich mit ubereinandergeschlagenen Beinen.

Waren sie in einer psychiatrischen Klinik, hie?en sie Patienten. Im Recollectio werden sie Gaste genannt. Arztekittel sind nicht zu sehen, da die psychotherapeutische und spirituelle Betreuung im Mittelpunkt steht. Wer ankommt, spricht mit Wunibald Muller. Mit Muller, dem Psychologen, weniger dem Theologen. Auch Mullers Frau arbeitet im Recollectio-Haus, als Psychiaterin.

Wie alle Gaste erhielt Hans-Joachim Wahl nach seinem Empfangsgesprach einen Stundenplan. Jeder Tag ist getaktet. Um sieben Uhr Morgengebet, anschlie?end Korperarbeit, Fruhstuck, Gruppentherapie oder kreatives Gestalten. Nach dem Mittagessen Einzelgesprache, sowohl therapeutische mit Psychologen als auch spirituelle mit Monchen. Nachmittags jaten die Bewohner Unkraut im Klostergarten, reiten die Pferde des benachbarten Gestuts, sortieren Waren im Eine-Welt-Laden vorn an der Klosterpforte. Abends kochen sie gemeinsam und tanzen zu Beethoven oder Enya.

Muller hielt die "geistige Enge" nicht aus

Das Haus sagt einiges uber den Zustand der Kirche in Deutschland aus, vor allem uber deren Defizite. Ohne Wunibald Muller hatte es dieses Haus wohl nie gegeben. Er wuchs nicht weit entfernt von Schwarzach im Odenwald auf, besuchte katholische Internate, auch jenes Kloster-Gymnasium, das zwischen der Abteikirche und dem Flachdachbau steht, in dem Muller nun sitzt. Nach dem Abitur studierte er katholische Theologie und Psychologie. Drei Monate verbrachte er bei den Missionsbrudern des Heiligen Franziskus. Dann ging er. Die "geistige Enge" dort habe er nicht ausgehalten, sagt er.

Statt Messen zu halten, schrieb Muller Ende der 70er-Jahre seine Doktorarbeit. Sie trug den Namen: "Homosexualitat: eine Herausforderung fur Theologie und Seelsorge". Muller studierte dafur von 1979 bis 1982 in Berkeley bei San Francisco in Kalifornien, "weil dort 20 Prozent der Bevolkerung homosexuell waren". Damals horte Muller erstmals von Einrichtungen, die sich seit den 70er-Jahren in den Vereinigten Staaten verbreiteten. Dort konnten Priester sich wegen psychologischer Probleme behandeln lassen.

Als er nach Deutschland zuruckkehrte, erlebte er als Pastoralpsychologe, dass auch deutsche Pfarrer leiden. So sehr, dass Muller ihnen mit kurzen Gesprachen kaum helfen konnte. Da wurde dem jungen Diozesen-Angestellten klar, dass es auch hier Bedarf fur ein kirchliches Therapiezentrum gab.

"Recyclinghof fur Pfaffen"

Zwei weitere Grunde trieben ihn an. Der eine hatte mit seiner eigenen Laufbahn zu tun. Wo sonst hatte Muller sowohl als Theologe als auch als Psychologe arbeiten konnen? Der andere Grund war der auch damals nicht sehr zeitgema?en Kirchenpolitik geschuldet. Muller wollte daran mitarbeiten, die Kirche von innen heraus zu modernisieren. "Das Recollectio-Haus war mein Beitrag fur die Erneuerung der Kirche", sagt Muller heute.

Das erste an die Deutsche Bischofskonferenz adressierte Gesuch, ein deutsches Therapiezentrum fur Geistliche zu eroffnen, wurde allerdings mit einem knappen Antwortschreiben abgelehnt. Selbst der liberale Kardinal Karl Lehmann war dagegen.

Bei Mullers zweitem Anlauf zeigten sich immerhin die Bischofe der Diozesen Freiburg, Wurzburg und Rottenburg-Stuttgart bereit, das Projekt zu finanzieren. Sie wollten aber nicht als Betreiber auftreten. "Macht es auf euer eigenes Risiko", hie? es. Und so tat es Wunibald Muller gemeinsam mit der Benediktiner-Abtei. Innerhalb eines Jahres lie?en sie den Flachdachbau umbauen. Den Namen "Recollectio" wahlte ein damaliger Abt aus. Er bedeutet so viel wie "sich sammeln".

Vor 20 Jahren eroffnete Muller schlie?lich sein Therapiezentrum. 1200 Priester, Monche, Nonnen und Pastoralreferenten lie?en sich seitdem hier behandeln. In der Anfangszeit wurde es von Kirchenoberen "katholischer Mulleimer" genannt oder "Recyclinghof fur Pfaffen". "Ist es schon so weit?", antwortete ein Pfarrer, als ein Kollege ihm den Besuch bei Recollectio empfohlen hatte. Muller erzahlt diese Anekdote mit einem Grinsen. Es ist das Grinsen eines Mannes, der erkannt hat, dass er recht hat.

Er redete auch mit padophilen Priestern

Mittlerweile schatzen die bischoflichen Exzellenzen sein Haus. Spatestens seit den Missbrauchsskandalen horen sie aufmerksamer auf das, was Muller sagt. "Manches hatte verhindert werden konnen, wenn man fruher auf uns gehort hatte", sagt er.

Muller galt lange als Nestbeschmutzer, weil er katholische Tabuthemen offentlich machte. Er sprach aus, was alle wussten: dass Pfarrer sexuelle Luste haben, dass viele diese ausleben, dass manche von ihnen homosexuell sind. Muller redete offentlich auch uber jene Priester, die ihre Ministranten oder Schuler zu sehr gernhaben. Die sich an ihnen vergingen, ihre Seelen verletzten, manche zerstorten.

Einige dieser Priester suchten bei Muller Rat. Manche sahen ihre Sunde ein, andere blieben stur. Vor allem die besonders Religiosen wollten Muller bisweilen weismachen, dass sie den Jugendlichen, die sie missbrauchten, eine Gunst erweisen wurden. Muller redete mit ihnen, manchmal auch auf sie ein. Ihnen helfen konnte er nicht. "Sie sind in einer auf Padophile ausgerichteten Klinik besser aufgehoben", sagt der Therapeut.

Yoga und Boxen

Mullers Recollectio-Haus ist vielleicht das Fortschrittlichste, was die katholische Kirche in Deutschland zu bieten hat. Auf dem Stundenplan finden sich jedoch Begriffe, die drau?en, in der weltlichen Welt kaum einer verwenden wurde. "Atem und Tone" hei?t ein Kurs, ein anderer "Leibarbeit". Wer denkt sich solche Namen aus? Sie klingen abstrakt, verkopft. Ist nicht diese Gedankenwelt Teil des Problems?

Wunibald Muller sagt: "Der Begriff Leibarbeit kommt aus der Tradition des Zen-Lehrers Karlfried Graf Durckheim, der damit sagen wollte, dass der Korper nur im Zusammenhang mit dem ganzen Menschen gesehen werden kann."

Im Leibarbeitsraum im zweiten Geschoss kann man Schwester Christiane dabei zuschauen, wie sie mit Tennisballen vor einer brennenden Kerze meditiert. Als nebenberufliche Therapeutin der Priester sagt sie Satze wie: "Ich stehe locker da, aufrecht wie ein Baum, mein Kopf ist die Krone, meine Fu?e sind die Wurzeln, ich bin ganz da." 45 Minuten dauert ein Kurs, auch Yoga ist dabei, Nonne Christiane will ja mit der Zeit gehen.

Und noch etwas will sie zeigen. Die Frau in Grau fuhrt in den Keller, offnet die Tur zu einem schmalen, gekachelten Raum, von dessen Decke ein Boxsack hangt. Schwester Christiane schlupft in Boxhandschuhe, fixiert den Sack und schlagt zu. Eine Rechte, eine Linke, noch eine Rechte. Ihr Kreuz an der Halskette springt vor ihrer Brust auf und ab. Sie ruft: "Hier kann ich schreien ‚Ja!‘ und ‚Nein!‘ und ‚Doch!‘." Der Sack bewegt sich kaum. Der Boxraum sei immer geoffnet, rund um die Uhr, sagt die Nonne. Man wei? ja nie, wann den Geistlichen nach Schlagen zumute ist.

Was fur die meisten Menschen normale oder zumindest bekannte Beschaftigungen sind, muss von vielen Priestern im Recollectio-Haus erst erlernt werden. Schwimmen, Joggen, Gitarrespielen kann fur sie zu einer aufregenden Erfahrung werden.

Entscheidung zwischen zwei Lieben

Matthias Woll musste in Munsterschwarzach ebenfalls wieder lernen, was es hei?t, ein normales Leben zu fuhren. Der Ordenspriester besuchte das Recollectio-Haus, weil er sich nicht zwischen zwei Lieben entscheiden konnte. Die eine Liebe hatte mit einem Kelch zu tun, die andere mit einem Katzenkostum.

Matthias Woll

Er erzahlt das an einem kalten Winternachmittag im Kloster Junkerath. Es ist Ferienzeit, deshalb ruhig. Sonst werden die 60er-Jahre-Bauten nicht nur von Monchen, sondern auch von Schulklassen bevolkert. Die Jugendbildungsstatte Don Bosco ist bei Lehrern beliebt. In der Abgeschiedenheit der Eifel konnen die Schuler nicht so viele Dummheiten machen. Woll spielt mit ihnen Tischfu?ball, Billard und Uno. Es riecht nach Hagebuttentee. Die nachste Kneipe ist viele Kilometer entfernt, der Ruckweg hinauf auf den Klosterberg beschwerlich.

Matthias Woll tragt einen schwarzen Pulli und Nadelstreifenhose. Er blickt seinen Gast freundlich an, auch wenn der ihn nach seinem Liebesleben fragt. Der 46-Jahrige ist bereit zu antworten. Er will nicht mehr schweigen uber die Liebe und den Zolibat.

"Das hielt ich nicht mehr aus"

Fur den Pater war der lange sein gro?tes Problem. Der Zolibat verbietet seit bald tausend Jahren allen Priestern und Monchen den Bund der Ehe und damit sexuelle Kontakte. Aber der Wunsch nach Zartlichkeit lasst sich nicht einfach abstellen. Auch nicht durch ein papstliches Dogma. "Seit dem Priesterseminar war das Thema Liebe fur mich mit Angst besetzt", sagt Woll. Seine Worte kommen nur zogerlich.

Bevor Woll nach Junkerath kam, arbeitete er in einer Stadt im Ruhrgebiet als Jugendseelsorger. Auf einer Karnevalssitzung lernte er Petra (Name geandert) kennen, eine verheiratete Pflegerin Ende 30. Woll gefiel ihr Lacheln. "Ist bei Ihnen noch Platz?", fragte Woll in seiner Glitzerhose damals und setzte sich zur Frau im Katzenkostum an den Tisch. Woll war Buttenredner. Er und Petra flirteten, tanzten die ganze Nacht, verabredeten sich. Beide besuchten einander einige Male, bis Woll an einem Vormittag seinen Mut zusammennahm und Petra in ihrem Wohnzimmer kusste. "Ich hatte Herzklopfen", sagt er.

Woll erzahlt davon, wie er die Zartlichkeit genoss, wie die Gefuhle fur Petra starker wurden. Und wie es ihm gefiel, dass sie ihn als liebenswurdig betrachtete. "Das erlebt man als Priester ja nicht so haufig", sagt er.

Er und Petra trafen einander dreimal wochentlich, schrieben SMS. Jedes Mal, wenn er sie besuchte, nahm er einen anderen Weg. Mit jedem Treffen, mit jeder Beruhrung wuchs die Liebe – und das Schuldgefuhl. "Irgendwann denkt man nach", sagt Woll. Er und Petra fragten sich, wie ein gemeinsames Leben aussehen konnte. Sie musste sich scheiden lassen, er seinen Beruf aufgeben. "Das war zu viel", sagt Woll, "uns wurde klar, dass wir keine gemeinsame Zukunft haben. Keine haben durfen."

Innerhalb weniger Wochen durchlebte Woll einen Schnellkurs in Sachen Liebe. "Ich merkte, dass sie etwas Tolles ist", sagt er, "aber auch so schrecklich wehtun kann." Woll fuhlte sich wie ein Betruger. "Ich musste unehrlich sein, das hielt ich nicht mehr aus", erzahlt er. Ein halbes Jahr nach der Karnevalssitzung, bei der alles begann, offenbarte sich Wahl seinen Eltern. Sie reagierten enttauscht. Dann sprach er mit dem Provinzial seines Ordens. Der verzog sein Gesicht und schickte ihn nach Munsterschwarzach.

Er wollte immer Priester werden

Fur Menschen, die der Kirche und ihrem Regelwerk fernstehen, mag es erschreckend klingen, in eine Therapie zu mussen, sobald sie Schmetterlinge im Bauch spuren. Fur Wunibald Muller ist es der Alltag. Zehn bis zwanzig Prozent seiner Gaste kommen ins Recollectio-Haus, weil sie den Zolibat nicht einhalten konnen.

Um nachvollziehen zu konnen, wie schwer Wolls Schuldgefuhle wogen, muss man sich anschauen, wie der Mann aus der Eifel aufgewachsen ist. Matthias Woll stammt aus einem frommen Elternhaus. Sein Weg zum Priesterberuf war kurz: Messdiener, Oberministrant, mit 17 Jahren Orientierungstage im Junkerather Kloster. Bei der Abschlussmesse habe er im Altarraum geweint, so nah habe er sich Gott gefuhlt, erzahlt er.

Er wollte Priester werden. Seine Eltern waren begeistert. Im Sommer 1998 legte sich Woll in der Basilika von Benediktbeuern bei Augsburg vor den Bischof auf den mit einem Teppich bedeckten Steinboden, schwor Gehorsam und Ehelosigkeit. Die Eltern schenkten ihm einen silberfarbenen Kelch. Der passe gut in seine Hande, sagt Woll. "Wenn ich ihn halte, gibt er mir Kraft. Ich fuhle mich getragen. Als ob Jesus Christus dann bei mir ware."

An jenem Junitag 1998 dachte der angehende Pfarrer, das sei es. Er hatte seine Berufung gefunden. Die Probleme mit dem Zolibat kamen erst spater.

Existenzangste

Petra war nicht die erste Frau in seinem Leben, aber seine erste gro?e Liebe. "Ich bin ein feinfuhliger Mensch", sagt Woll, schweigt kurz, als wurde er eine Antwort erwarten. Es ist zu spuren, wie wohl sich Woll dabei fuhlt, offen reden zu konnen.

In katholischen Kirchen und Klostern herrscht eine Kultur des Runterschluckens. Unter Ordensbrudern offen uber sexuelle Sehnsuchte zu sprechen, bedeutet normalerweise das Ende der klerikalen Karriere. Dazu die Existenzangste.

Viele Pfarrer mit Lebensgefahrtinnen oder Lebensgefahrten fragen sich, ob sie ihrer Liebe wegen beruflich wirklich wieder ganz von vorn anfangen wollen. Ob es sich lohnt, auf das weltliche Leben umzuschulen und am Ende womoglich in der Arbeitslosigkeit zu enden. All diese Gedanken, hinter Klostermauern tabuisiert, werden im Recollectio-Haus offen ausgesprochen.

Rat Muller zur Liebe oder zum Amt?

Muller ist nicht nur Psychologe, er ist auch ein Mann der Kirche. Recollectio wird von acht Diozesen finanziert, von den Bistumern Augsburg, Freiburg, Limburg, Mainz, Munchen-Freising, Rottenburg-Stuttgart, Wurzburg und Paderborn.

Wie verhalt sich Muller den Zolibatbrechern gegenuber? Rat er ihnen zur Liebe oder zum Amt? "Wenn jemand zu einer Frau stehen mochte, werde ich ihn nicht abhalten. Es gibt auch keinen Druck von oben. Die Bischofe und Personalvorstande wissen, dass es keinen Sinn hat, einen Menschen gegen seinen Willen im Priesteramt zu halten. Wichtig ist, dass der Priester sich klar fur das eine oder andere entscheidet."

Auf dem Okumenischen Kirchentag in Munchen forderte Muller, dass auch verheiratete Manner und Frauen Priester werden durfen. Fur einen Mann, der von der katholischen Kirche bezahlt wird, sind das starke Worte. Munsterschwarzach ist von Rom weit weg.

Als Woll, der verliebte Priester, hierher kam, versicherte Muller ihm, dass seine Gefuhle naturlich seien. "Liebe ist ein Geschenk Gottes", lautete der Satz, der Woll bis heute in Erinnerung geblieben ist. In den Malkursen malte Woll seine Bilder in roter Farbe, nicht in Schwarz, wie die meisten der anderen Besucher des Hauses.

"Erst im Recollectio-Haus habe ich gemerkt, dass das Thema Liebe nicht mit Angst besetzt sein muss", sagt Woll. Ihm gefiel die Freiheit, alles tun und denken zu durfen. Nicht mal die Gottesdienste sind fur die Gaste des Recollectio-Hauses Pflicht. Woll brachte innerhalb von sechs Wochen sein Leben zu Papier, auf 40 Seiten, wie er sagt. Und er lernte jemanden kennen, der es abermals verandern sollte.

Stanke fand Gott mit 23 Jahren

Michael Stanke, 53, ist Protestant. Aber seine Probleme haben den Dorfpfarrer aus Wiesens in Ostfriesland zu den Katholiken gefuhrt. Keine 30 Kilometer vom Recollectio-Haus entfernt betreibt die evangelische Kirche seit 18 Jahren eine ahnliche Einrichtung unter dem Namen "Respiratio". Dort dauern die Kurse nur sechs Wochen. "Das hatte mir nicht gereicht", sagt Michael Stanke.

Michael Stanke

Stanke ist seit 17 Jahren Pfarrer in der Gemeinde Wiesens bei Aurich. Was fur die Katholiken Oberbayern ist, ist Ostfriesland fur die Protestanten. Im Ort ist er nach dem Burgermeister unangefochten die Nummer zwei, noch vor dem gro?ten Bauern und dem Vorsitzenden des Fu?ballvereins. Das gedrungene Pfarrhaus, in dem er mit Frau und drei Kindern lebt, ist wie ein Marktplatz fur die 1400 Dorfbewohner.

Er sitzt in seinem Buro in einem Korbsessel und knabbert an einer selbst gebackenen Waffel. Wahrend des Gesprachs klingelt es achtmal an der Tur.

Stanke ist ein hagerer Mann mit grauem Bart und scheuem Blick. Ihn trieb vor allem eine spirituelle Krise ins Recollectio-Haus. Um zu verstehen, wie er Gott verloren hat, muss Stanke erzahlen, wie er ihn einst fand.

Nach einem Unfall 1981 war Stanke eine Stunde lang klinisch tot. Er war 23 und als er erwachte, konnte er sich weder an seine Freundin erinnern noch an die Hebraisch-Vokabeln, die er im Theologiestudium gelernt hatte. "Meine Festplatte war geloscht", sagt Stanke und klopft sich an die Stirn. Er wusste nichts mehr. Bis auf das Vaterunser. Stanke wertete dies als Zeichen. Als Zeichen von oben.

Wegen des Unfalls vergisst Stanke noch heute Namen und Gesichter. Als Dorfpfarrer ist das ungunstig. "Ich erkenne manchmal Leute nicht, denen ich am Vortag noch zum Geburtstag gratuliert habe", sagt er. Die Leute im Ort redeten uber ihn, bis sich der Kirchenvorstand beschwerte. Das verunsicherte ihn.

Nach einer Predigt applaudiert keiner

Man muss sehen, wie seine Augen leuchten, wenn er davon berichtet, wie erfullend eine gelungene Predigt sein kann, um zu verstehen, wie stark sich Stanke uber seinen Beruf definiert. Er will ein guter Pfarrer sein.

Aber wie misst man den Erfolg eines Pastors? Nach einer Predigt applaudiert keiner. In anderen Berufen lauft die Anerkennung uber das Gehalt. In der evangelischen Kirche macht man es fur "Gottes Lohn", wie Stanke es ausdruckt, plus eine Alimentation, zwischen 3110 und 4226 Euro im Monat.

Stanke dachte viel nach daruber, wie er ankam in der Gemeinde. Wahrscheinlich zu viel. Ein paar Mal schrieb er in die Geburtstagsrubrik des Gemeindebriefs den Namen einer verstorbenen Person. Die Dorfbewohner reagierten emport. "Solche Fehler machten mir zu schaffen", sagt Stanke und greift nach dem Regalbrett neben ihm, das wahrend des Gesprachs so etwas wie seine Stutze ist, wenn er uber Dinge spricht, die ihm nahegehen.

Die Situation eskalierte im Herbst 2008, als er auf der Kanzel der kleinen Dorfkirche stand und sich fragte, was er da eigentlich noch solle. "Mir war Gott auf einmal fremd vorgekommen, als ob jemand die Verbindung zwischen ihm und mir gekappt hatte", sagt Stanke. Ihm habe es nie gereicht, nur seinen Job zu tun, meint er. "Ich hatte eine tiefe, enge Beziehung zu Gott. Und plotzlich sah ich, wie dieses Verhaltnis zerbrochen ist. Das war eine Katastrophe fur mich." Stankes Augen blitzen kurz auf. Ein Blick, der nichts fur sakulare Gemuter ist.

"Es kam mir wie ein Wunder vor"

Stanke rief bei Wunibald Muller an. Vier Monate spater setzte er sich in seinen roten Opel Astra und fuhr neun Stunden nach Munsterschwarzach. Er sprach mit Pater Anselm Grun, der einige Bucher geschrieben und auch regelma?ig in Talkshows uber Gluck und Gelassenheit referiert.

Als Cellerar leitet Grun die Finanzen des Munsterschwarzacher Benediktinerordens. Wenn er Zeit hat, spricht er mit den Priestern unter vier Augen. Im Gesprach mit Stanke zitierte Grun Bibelspruche. Er habe ihm lange zugehort, erzahlt der Pfarrer aus Ostfriesland, ehe er Stanke am Ende zwei Ratschlage gab.

Die Beziehung zwischen ihm und Gott sei nicht von Gott gekappt worden, hatte Grun gesagt. Nein, Gott wolle stets Kontakt zu ihm halten. Er, Stanke, sei es gewesen, der die Verbindung gelost habe. Das war der erste Tipp. Der zweite lautete: "Ihr Ehrgeiz ist gut, aber es ist falsch, sich uber die Arbeit zu definieren." Er sei nicht mehr oder weniger wert, wenn er besser oder schlechter arbeite. Gott denke nicht in solchen Kategorien.

Dieses Gesprach war Stankes erstes Damaskuserlebnis in Munsterschwarzach. Das zweite fand auf dem Sportplatz statt. Stanke war nie ein sportlicher Typ, erzahlt er. "Nach funf Minuten war ich au?er Puste." In Schwarzach schaffte er es zum ersten Mal, 40 Minuten zu joggen. "Es kam mir wie ein Wunder vor. Uber meinen Korper fand ich wieder Zugang zu meiner Seele."

Als hatte er eine neue Mission gefunden

Der Dorfpfarrer fuhr nach Ostfriesland zuruck. Er fuhlte sich gesund. Seitdem joggt er einmal die Woche. Zwischen ihm und Gott sei wieder alles in Ordnung, sagt er. "Die Verbindung ist wieder hergestellt. Ich kann beten, finde Ruhe und Freude in Gott. Manchmal spure ich sogar seine Nahe."

Vor einigen Monaten hat Stanke die Gemeinde in Ostfriesland verlassen und eine andere in Amelungsborn bei Holzminden ubernommen. Die Hannoversche Landeskirche plant, im dortigen Kloster ein drittes deutsches Therapiezentrum fur Geistliche aufbauen. Das katholische Recollectio- und das evangelische Respiratio-Haus werden dem Bedarf nicht mehr gerecht.

Michael Stanke mochte in dem neuen Haus weitergeben, was ihm selbst geholfen hat. Deshalb ist er noch mal nach Munsterschwarzach gefahren. Zum 20. Geburtstag des Recollectio-Hauses hatte Wunibald Muller ein Symposium veranstaltet. Viele ehemalige Gaste kamen. Auf der Buhne diskutierten Kirchenvertreter uber den Sinn der kirchlichen Grundordnung und des Zolibats. Stanke machte sich Notizen, nickte heftig und schuttelte manchmal mit dem Kopf. Es scheint, als hatte er eine neue Mission gefunden.

"Seit Jahren kein so stressfreies Weihnachten mehr"

Dekan Hans-Joachim Wahl, der Priester aus Bad Nauheim, trug in den ersten Wochen nach seinem Aufenthalt im Recollectio-Haus in seinem Terminkalender feste Ruhezeiten ein. Sturmte ein Mitarbeiter auf ihn zu, um Fotos fur die Lokalzeitung zu machen, sagte er: "Das hat spater auch noch Zeit."

Aber dann fiel Wahl in alte Muster zuruck. "Mein Korper musste mich bremsen", sagt er. Erst fiel der Pfarrer vom Rad und prellte sich das Knie; dann brach er sich das Nasenbein; schlie?lich riss sein Kreuzband, als er uber das Kopfsteinpflaster der Kirche stolperte. Die Verletzungen verstand Wahl als Warnung. Er suchte sich eine neue Pfarrei. Im September ubernahm er eine Gemeinde in Gie?en. Den Posten des Dekans gab er auf. "Schon seitdem die Sache sicher war, hat sich meine Pulsfrequenz beim Belastungs-EKG verbessert, meinte mein Arzt", sagt Wahl.

Vor seinem Antritt in der neuen Pfarrei fuhr Wahl noch mal ins Recollectio-Haus, 30 Tage, "um den Fu? vor die Tur zu stellen". Weihnachten und Ostern sollten seine Belastungstests sein. Es sind oft die gefahrlichsten Zeiten fur uberlastete Pfarrer. Fast taglich ist eine Messe zu lesen. Tagelang funktionieren und predigen und dabei auch noch feierlich dreinschauen.

"Die Gemeinde unterstutzt mich fantastisch und akzeptiert, wenn ich sagte, es geht nicht mehr. Ich hatte seit Jahren kein so stressfreies Weihnachten mehr", erzahlt Wahl, der an den funf Osterfeiertagen "nur sieben Messen" zu lesen hat. Seit er in Gie?en ist, hat er zehn Kilogramm abgenommen.

Eine neue Liebe

Auch Priester Matthias Woll, der sich zwischen seinen Lieben nicht entscheiden konnte, hatte sich in Munsterschwarzach etwas vorgenommen. Er machte Schluss, brach den Kontakt zu seiner gro?en Liebe aus dem Ruhrgebiet ab und zog ins Kloster nach Junkerath.

Er habe sich erst mal aufs Neue fur den Priesterberuf entschieden, hatte er Wunibald Muller im Recollectio-Haus gesagt. Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Wahrend seiner Zeit in Schwarzach hatte sich Woll in einen von Mullers Gasten verliebt. In Miriam (Name geandert), eine Nonne, die die Enge ihrer Schwesterngemeinschaft in einem bayrischen Kloster nicht mehr ausgehalten hatte.

Wahrend ihres gemeinsamen Aufenthalts am Main teilten beide das Gefuhl, sich aus ihrer "Starre befreien" zu mussen. Das verband sie. "Wir lachten zusammen, schwiegen zusammen, weinten zusammen", sagt Woll, "und irgendwann waren wir auch zartlich miteinander."

"Endlich Frieden im Kopf"

Einige Monate nach Recollectio trafen Matthias und Miriam eine Entscheidung: Sie wollten Pause machen von ihren Berufen, die sie so liebten. So wie sie es in Munsterschwarzach gelernt hatten. "Hore auf dein Herz", hatte es dort gehei?en, "handele ihm nicht zuwider."

Matthias und Miriam beantragten eine einjahrige Beurlaubung, so wie sie jeder Geistliche beantragen kann. Woll zog vom Junkerather Kloster nach Munchen. Seine heutige Arbeit ist weltlich: Weil er einst Sozialpadagogik studiert hatte, muss er nicht wie andere ausgeschiedene Monche von Sozialhilfe leben. Woll arbeitet in einem Kinderheim der Caritas, hilft Jugendlichen bei ihren Hausaufgaben, spielt mit ihnen Tischtennis. Miriam sieht er am Wochenende.

Manchmal besucht er in einem Jesuitenorden sein altes Leben, redet mit Monchen, betet. Dort sieht er, was er aufgegeben hat, wahrscheinlich fur immer: den Platz hinterm Altar, das Spielen der Orgel, die trinkseligen Abende mit den Klosterbrudern – sein Leben, wie er es 22 Jahre lang kannte. "Ich muss Trauerarbeit leisten", sagt er. Andererseits, seinem Blutdruck gehe es besser, abgenommen habe er auch.

Ob er nach dem Sabbatjahr wieder zuruckkehren mochte ins Priesteramt? Woll kippt den Kopf zur Seite, er konne es sich nicht vorstellen, sagt er. Er erzahlt, wie schon der letzte Urlaub mit Miriam war. Funf Tage Salzburg, spazieren, essen, lieben. Auch in der Kirche waren sie. Handchen haltend haben sie diese betreten, erzahlt Woll. Fruher hatte er das in keinem Gotteshaus der Welt gewagt. An jenem Tag in Salzburg aber habe er gespurt, wie schon es ist, seine Liebe zu zeigen. "Da hatte ich endlich Frieden im Kopf", sagt er.

 

 

 

 

 




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