| „ich Fühle Mich Seitdem Emotional Behindert"
Saarbrucker Zeitung
February 25, 2010
http://www.saarbruecker-zeitung.de/aufmacher/Missbrauch-Homburg-Internat-Gestaendnis-Gymnasium-geistlichkeit;art27856,3204147,0#.T3nQr2Ffh2A
Sanfte Stimme, weiche Figur: Anschmiegsam, vertrauensvoll wirkt der 42-Jährige, für seine drei Kinder ganz der Familienvater zum Toben und Knuddeln. „Meine Kinder habe ich wissen lassen, dass die Welt friedlich und schön sei, aber ich stelle eine Welt dar, die für mich nicht existiert", sagt der Saarlouiser. „Nähe ertrage ich nur, wenn ich sie kontrollieren kann. Wenn meine Frau mich von hinten umarmt, fahre ich zusammen."
Sieben Jahre hatte er das Geheimnis in seiner Seele verschlossen. Nach seiner Hochzeit mit 21 Jahren platzte es aus ihm heraus. „Wir lagen im Bett, als mir im Streit mit meiner Frau entfuhr: Du bist wie der Pater." Sie hakte nach und erfuhr, was Andreas K. (Name geändert) bis heute nur Familie und Therapeuten erzählt hat, bis er sich gestern der Saarbrücker Zeitung aus zwei Gründen offenbarte: „Bis jetzt war der Missbrauch, den ich erlitten habe, ein Phantom. Jeder hätte sagen können: Du baust Mist und lässt dir zur Entschuldigung so eine Geschichte einfallen."
Jetzt war ohne Zutun von Andreas ein Fall aus dem früheren Internat des Homburger Gymnasiums Johanneum publik geworden, und der – nach Münster versetzte – Pater hat gestanden (wir berichteten). „Über die Täter wird berichtet, über die Spätfolgen für die Opfer kaum", erklärt der 42-Jährige seinen späten Schritt an die Öffentlichkeit.
Wegen schlechter Noten war er mit 14 Jahren von einem Saarlouiser Gymnasium ans Johanneum gewechselt – und ins Internat gekommen. „Es war schon in Saarlouis Gespräch: Da ist ein schwuler Pater im Internat", erzählt er. „Aber darüber hatte ich mir keine weiteren Gedanken gemacht." Doch schnell machte er Bekanntschaft mit dem heute 65-Jährigen: „Als Leiter des Internatshauses für die 14- bis 16-Jährigen war er für uns Tag und Nacht zuständig", berichtet Andreas. „Der Pater hatte fünf, sechs Schüler, die er bevorzugte."
„Ihm als Hausleiter war ich ausgeliefert"
Jeden Abend sei er durch die Sechser-Zimmer gegangen: „Er hat uns Gute Nacht gewünscht, über den Bauch gestrichen und einigen einen Kuss gegeben." Alle anderen mussten um 20.30 Uhr auf ihren Zimmern sein, die Auserwählten ließ er oft im Fernsehraum Fußball gucken: „Europapokalspiele bis spät abends, und er hat uns Alkohol ausgeschenkt." Doch das war nicht der Schluss. „Waren die anderen weg, hat er mich gefragt: Sollen wir uns noch einen Film anschauen?", erinnert sich der 42-Jährige.
„Ihm als Hausleiter war ich ausgeliefert und konnte mich nicht entziehen." Er habe ihn mit aufs Zimmer genommen, über zwei Jahre um die 20 Mal, oft über drei Stunden. „Wenn er sich mir näherte, habe ich mich schlafend gestellt. Dennoch hat er meine Hand genommen, sich damit befriedigt, und er hat an meinen Genitalien herumgespielt." Dass es anderen genauso erging, nimmt er an, gesehen hat er es nicht: „Es war ein stilles Geheimnis unter uns."
Mit 16 Jahren wechselte er zurück nach Saarlouis, verriet aber nichts. „Ich habe auch meinen Eltern Schuld gegeben, weil sie mich ins Internat gesteckt hatten, und das an ihnen ausgelassen, indem ich Scheiße gebaut, extrem gelebt habe." Selbstzerstörerisch: Alkohol, Spielsucht. Psychosomatische Krankheiten und Depressionen setzten ihm bis zur Hochzeit zu: „Mein Gedanke war, einen Sohn zu bekommen, bevor ich Selbstmord begehe, damit etwas von mir weiterlebt."
Sein Hemd zieht er vors Gesicht, um sich die Tränen wegzuwischen. Nach der Geburt ein Schock: „Ich wagte nicht, meinen Sohn inniglich zu umarmen oder zu küssen", erklärt er: abstrakte Angst, vom Opfer zum Täter zu werden. „Deshalb will ich alles kontrollieren", sagt er mit brüchiger Stimme. „Da bleibt immer eine Distanz. Ich fühle mich seit damals emotional behindert."
„Ein Stück Persönlichkeit ist weg"
Bei der Caritas suchte er mit 21 Jahren Beratung, mit 25 machte er eine Kur: „Das hat etwas geholfen." Als er den Weißen Ring mit 27 um Opferschutz bat, waren die Taten verjährt. Seither kämpft er mit sich – und Unverständnis: „Meine Schwester fragte mich vor einigen Jahren: Bist du immer noch nicht darüber weg? Sie kann sich nicht hineinversetzen." Er schüttelt sich.
„Ein Stück Persönlichkeit ist weg. Man kann nur lernen, damit zu leben, nicht es zu vergessen", sagt er leise. „Aber wenn ich das 26 Jahre ausgehalten habe, schaffe ich das vielleicht noch mal 26 Jahre dank des Rückhalts meiner Frau." Nun schafft es Andreas immerhin, seine Kinder auch zu küssen: „Mal gelingt es mir einmal die Woche, mal nur alle zwei Monate."
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