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  Jahrzehnte Der Sunde

By Gregor Peter Schmitz
Spiegel
December 15, 2011

http://www.spiegel.de/panorama/0,1518,803687,00.html



Terence McKiernan tragt Schnauzbart und einen Schlabberpulli, er sieht wie ein Gemutsmensch aus. Der 57 Jahre alte Philologe hat in seiner katholischen Gemeinde jahrelang ehrenamtlich Hostien gebacken, im Bibelkreis studierte er die Heilige Schrift. Doch das ist lange vorbei, denn McKiernan ist von seiner Kirche bitter enttauscht. "Ich habe meine eigenen heiligen Texte gefunden", sagt er und deutet auf den Laptop vor sich. "Aber sie zeigen leider nur eins: das Bose."

McKiernan ruft ein Dokument auf: "Sehen Sie, ein Brief an Papst Johannes Paul II. Der Absender beschreibt, wie er im Alter von zehn Jahren, beim Schwimmen, von einem katholischen Priester vergewaltigt wurde. Der Mann erhielt keine Antwort vom Vatikan." Er klickt weiter: "Hier finden Sie Dokumente daruber, wie sich gleich drei Priester an einem jungen Messdiener vergingen." Noch ein Klick: Auf dem Bildschirm tauchen Notizen verschiedener Bischofe uber einen Geistlichen auf, der des Kindesmissbrauchs verdachtig war - und trotzdem weiterhin mit Kindern arbeiten durfte.

"Wir haben schon 130.000 solcher Akten online gestellt", sagt McKiernan, "in ihnen sind uber 3000 katholische Priester als Tater erfasst." Eine seiner jungsten Quellen ist ein Geheimarchiv der Erzdiozese Philadelphia, in dem interne Erkenntnisse zu Missbrauchsfallen zusammengetragen wurden. Es war aber auch der Ort, an dem dieses Wissen begraben werden sollte. Denn die Papiere belegen, dass Kirchenobere an der Vertuschung der skandalosen Vorgange beteiligt waren. Nun mussen weitere US-Diozesen bangen.

McKiernan hackt zornig auf den Laptop. Es ist die Stimmung, in die er jedes Mal gerat, wenn er Dinge wie diese liest. Seit einem Jahrzehnt halten immer neue Enthullungen uber Missbrauchsfalle die US-Katholiken in Atem, zwei Millionen Amerikaner haben deswegen in den letzten Jahren die Kirche verlassen. McKiernan aber hat sich nicht einfach abgewandt, er handelt.

Bischofe zur Rechenschaft ziehen

Gemeinsam mit Anne Doyle, PR-Expertin und enttauschte Katholikin wie er, steuert McKiernan von einem kahlen Buroraum nahe Boston aus eine Art Kirchen-WikiLeaks. BishopAccountability.Org hei?t seine Organisation: Bischofe zur Rechenschaft ziehen.

McKiernan und Doyle, 52, vertrauen auf die Kraft der Klicks, sie haben einen Online-Pranger geschaffen, Jahresbudget 300.000 Dollar, finanziert werden sie uberwiegend von Missbrauchsopfern. Mehr als eine Million Nutzer haben sich die Web-Seite www.bishopaccountability.org voriges Jahr angeschaut. Unermudlich sammeln beide Unterlagen uber Missbrauchsfalle in der katholischen Kirche: offentlich zugangliche Akten von Gerichtsverfahren und Ermittlungen, aber auch private Aufzeichnungen von Betroffenen. Und eben Auszuge aus Geheimarchiven der Kirche.

Jahrzehnte der Sunde sind nun im World Wide Web abrufbar. McKiernan zeigt einen Brief aus dem Jahr 1948, in dem ein US-Priester einem Freund beschreibt, wie himmlisch der Sex mit einem Knaben gewesen sei. Bestraft wurde er nie. "Es ist, als schaue man dem Bischof uber die Schulter, der von solchen Fallen liest - und dann nichts unternimmt." McKiernan klingt ein bisschen wie Julian Assange, der Grunder der Enthullungsplattform WikiLeaks und Verfechter totaler Transparenz.

Das Geheimarchiv von Philadelphia war bei Ermittlungen entdeckt worden: In der Stadt stehen derzeit drei Priester und ein katholischer Lehrer wegen Kindesmissbrauchs vor Gericht, daneben auch der engste Vertraute des dortigen Bischofs. Der Mann ist angeklagt, die angeblichen Sexgrauel seiner Kollegen systematisch vertuscht zu haben. Und in Kansas City in Missouri erhoben Staatsanwalte soeben Anklage gegen einen leibhaftigen Bischof - eine Premiere. Der Geistliche soll Beweise fur den Missbrauch von Madchen durch einen Pfarrer monatelang unterschlagen haben.

Dabei hatte die US-Kirche gerade stolz verkundet, nach Jahren voller Skandale und Entschadigungszahlungen an die Opfer ihre Lektion gelernt und Schutzvorkehrungen getroffen zu haben, damit sich Ahnliches nicht wiederholt. "Die Missbrauchskrise ist vorbei", frohlockte eine Kirchenstudie im Mai. Von wegen, wie die neue Diskussion um Geheimarchive uber Priestervergehen in Philadelphia zeigt. Hochpeinliche Notizen uber Priester, die alles Mogliche tun - nur selten Gutes.

2. Teil: "Dank uns hat jetzt jeder darauf Zugriff"

Zwar unterhalt jede Diozese vertrauliche Archive, zuganglich waren sie bislang aber nur wenigen. In Philadelphia blieben die Geheimakten der Kirche in einem fensterlosen Raum im 11. Stock des Burogebaudes der Diozese verborgen. "Die Kirche hat immer so getan, als seien diese Akten tabu wie Beichtinformationen", sagt Thomas Patrick Doyle, einst Sekretar in der Botschaft des Vatikans in Washington. "In Prozessen kam sie mit diesem Argument oft auch durch und musste die Dokumente nicht offenlegen."

Die Ermittler in Philadelphia waren beharrlicher. Sie bestanden auf Zugang zum kompletten Geheimarchiv - und fanden dort Hinweise auf Hunderte von Missbrauchsopfern. Auszuge aus den Anklageschriften und Gerichtsprotokollen, die auf den Geheimakten basieren, landeten bei McKiernans BishopAccountability.Org, der sie prompt online stellte: "Dank uns hat jetzt jeder darauf Zugriff."

Da gibt es zum Beispiel den sorgfaltig dokumentierten Fall von "Billy"*, eines zehn Jahre alten Messdieners. Ein Priester erwischte ihn Ende der neunziger Jahre, als er heimlich Messwein trank. Statt ihn auszuschimpfen, schenkte der Geistliche nach und fragte Billy, ob er schon eine Freundin habe. Dann zeigte er dem Jungen Nacktfotos und sagte, es sei Zeit, ein Mann zu werden. Kurz darauf zwang der Priester den Knaben zum Oralsex. Bald nahm ein anderer Priester Billy zur Seite und sagte, er wisse von dessen Treffen mit dem Kollegen, auch er wolle ihn "unterrichten". In der Sakristei zwang er den Jungen zum Tanzen und Striptease. Einige Monate spater holte ein Lehrer einer katholischen Schule den Jungen ab und vergewaltigte ihn im Auto. Billy fing mit elf an, Marihuana zu rauchen, spater wurde er heroinabhangig.

Nicht nur solche Details kommen mit den Geheimakten ans Licht, sondern auch Belege, wie derartige Vorgange vertuscht wurden. Dafur muss sich in Philadelphia jetzt der Bischofsvertraute William Lynn verantworten - ein Mann, der im Auftrag der Diozese Missbrauchsfalle untersuchen sollte. Doch Lynn hielt zu seinen Kollegen, nicht zu den Opfern.

Auch in den USA fuhlen sich Geistliche kaum an weltliche Gesetze gebunden

1992 etwa hatte ihm "James", mittlerweile 29, geschrieben und geschildert, wie ein Priester ihn im Alter von elf Jahren sexuell missbraucht habe. Lynn unternahm nichts. Jahre spater gehorte dieser Priester, mittlerweile in eine andere Diozese versetzt, zu den drei Peinigern von Billy. Die Belege zeigen: Auch in den USA fuhlen Geistliche sich oft kaum an weltliche Gesetze gebunden.

In Kansas City entdeckte ein Computertechniker im Dezember 2010 sexuell aufreizende Fotos von kleinen Madchen auf dem Laptop eines Priesters, sogar bei der Ostereier-Suche soll er Aufnahmen von Kindern gemacht haben. Doch statt den Geistlichen anzuzeigen, legten seine Vorgesetzten ihm lediglich nahe, Kontakt mit Minderjahrigen zu meiden. Er war jedoch weiterhin Stammgast bei Kinderpartys. Erst im Mai informierte der zustandige Bischof die Behorden - obwohl er in einem Prozess gegen 47 Priester seiner Diozese vor drei Jahren gelobt hatte, jeden Verdacht kunftig umgehend zu melden.

Die Diozese in Philadelphia hat im Februar eine ehemalige Staatsanwaltin engagiert, die ihr Archiv nach weiteren Fallen durchforstet. Das mag fur deren innere Sauberung wichtig sein, Terence McKiernan von BishopAccountability.Org. zeigt sich aber wenig beeindruckt. Er will "eine weltweite Online-Datenbank" aufbauen und damit auch eine weltweite Verantwortungskette schaffen.

Der Kirche ist inzwischen bewusst, dass sie mit mehr Offentlichkeit rechnen muss. Zu den haufigsten Seitenbesuchern von BishopAccountability.Org. zahlt laut IP-Adressenstatistik: die amerikanische Bischofskonferenz.

McKiernans Kollegin Anne Doyle wei? nicht, ob sie sich daruber freuen soll. "Wenn die Kirchenvertreter begreifen, wie sehr ihnen unsere Dokumente schaden, schreiben sie bald gar nichts mehr auf und regeln heikle Falle lieber mundlich", sagt sie. "Dann tappen wir wieder im Dunkeln."

 
 

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