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  DAS Ganze Leben Aus Der Bahn Geworfen

der Freitag
December 12, 2011

http://www.freitag.de/politik/1149-das-ganze-leben-aus-der-bahn-geworfen

Eine Auswertung der Anrufe bei den Hotlines von Kirche und Staat zu sexualisierter Gewalt gibt Hinweise fur Ansatze zur Therapie

Er schame sich abgrundtief, gab Pater Mertes, der ehemalige Leiter des Berliner Canisius-Kollegs, im Februar 2010 zu Protokoll. Der Ordensmann bemuhte sich an seiner Schule als einer der ersten kompromisslos um die Aufklarung sexuellen Missbrauchs. Die Scham, die Mertes damals bekundete, empfinden haufig genug aber die Opfer. Ohne Ansprechpartner mussen sie mit dem Geschehenen alleine zurechtkommen. Lebenslange Storungen sind die Folge.



Zu Beginn des Skandals schaltete der vom Bundeskabinett eingerichtete Runde Tisch deshalb eine Hotline, die Betroffenen als Anlaufstelle dienen, aber auch Tatern offen stehen sollte. Ein ahnliches Angebot schuf die Katholische Kirche, allerdings nur fur die Opfer sexualisierter Gewalt. Den Abschlussbericht zum Runden Tisch hat die Unabhangige Beauftragte Christine Bergmann (SPD) mittlerweile vorgelegt. Wenig bekannt ist dagegen die Auswertung der Hotlines, die in der Zeitschrift Trauma und Gewalt (Heft 2, 2011) vorgestellt wurde. Das Angebot, betonen die Experten, konne eine Therapie zwar nicht ersetzen. Dennoch sei es von gro?er Bedeutung, denn oft fuhlten sich die Betroffenen erstmals ernst genommen.

Erklartes Prinzip der telefonischen Anlaufstelle des Runden Tisches, die es immer noch gibt, ist strikte Anonymitat. Die Aussagen der Anrufer werden nur nach ausdrucklicher Einwilligung dokumentiert. Bis November 2010 meldeten sich 5.750 Personen, die von ihrem personlichen Schicksal berichteten, Kritik au?erten oder Vorschlage zum Umgang mit Kindesmissbrauch machten. Bei den knapp 2.000 ausgewerteten Gesprachsprotokollen handelt es sich also um keine reprasentative Stichprobe. Doch sie lassen wichtige Ruckschlusse zu auf die Betroffenen und das Ausma? und die Umstande sexualisierter Gewalt.

Zwei Drittel Frauen

Von denen, die uber eigene Erfahrungen mit sexuellen Ubergriffen berichteten, waren 63 Prozent Frauen und 37 Prozent Manner. Das bestatigt Erkenntnisse, dass Madchen ein deutlich hoheres Risiko haben, sexuell missbraucht zu werden. Die Ubergriffe auf Madchen ereignen sich eher in der Familie, wahrend Jungen dies eher in Institutionen widerfahrt. Das Alter der Anrufer lag zwischen acht und 81 Jahren, wobei die Alteren sich spater meldeten; offenbar brauchten sie langer, um ihr Schweigen zu brechen. 92 Prozent der Missbrauchsfalle liegen in der Vergangenheit; viele Taten gehen in die funfziger bis siebziger Jahren zuruck. Ahnliches ergab auch die Auswertung der Hotline der katholischen Kirche. Dass zunachst vor allem Gewalt in Institutionen, insbesondere der Kirche, zur Sprache kam und das familiare Umfeld erst nach und nach ins Licht ruckte, ist wohl auf die offentliche Debatte zuruckzufuhren. Interessanterweise leben fast 90 Prozent der Anrufer heute uberwiegend in den alten Bundeslandern. Woran das liegt, ist nicht eindeutig geklart.

Mit Blick auf die Tater bestatigte sich, was von der Offentlichkeit immer noch gerne verdrangt wird: Die Tater (unter den 811 waren es 75 Frauen) stammen sehr oft aus der Familie, oder es handelt sich um Vertrauenspersonen in Kirchen, Schulen, Heimen und medizinischen Einrichtungen, wobei die katholische Kirche deutlich dominiert. Es stellte sich auch heraus, dass Priester oft erst im Laufe ihres Lebens ubergriffig werden. Das diskutierte Screening von Priesteranwartern scheint somit wenig aussichtsreich. Fast immer wird eine „besondere Beziehung“ ausgenutzt, zum Beispiel die Beichte. Erzieher nahern sich in Schlaf- oder Waschraumen oder auf Schulfreizeiten. Entscheidend fur die Ubergriffe ist also vor allem der unkontrollierte Zugang zu Minderjahrigen und die Moglichkeit, sich ihr Vertrauen zu erschleichen.

Die oft lebenslangen posttraumatischen Belastungsstorungen liegen daran, dass die Opfer diesen Vertrauensbruch nicht einordnen konnen und sich schuldig fuhlen. Viele meiden deshalb Situationen, die sie an den Missbrauch erinnern konnten, zum Beispiel das Erlernen eines Instruments, den Sprachunterricht oder sportliche Aktivitaten. So werden Begabungen verschuttet, ganze Lebensentwurfe aus der Bahn gebracht. Diese Spuren in Missbrauchsbiographien zu bearbeiten, ware ein viel versprechender Therapieansatz. Bisher, auch das wurde deutlich, fuhlen sich vor allem Altere Missbrauchsopfer oft von den Professionellen missverstanden. Mit Blick auf Fragen der Pravention sind wohl vor allem die Betroffenen Experten.

 
 

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