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  "Kirche Ist Mehr Als Missbrauch"

Frankfurter Rundschau
February 7, 2011

http://www.fr-online.de/politik/spezials/missbrauch/-kirche-ist-mehr-als-missbrauch-/-/1477336/7148262/-/index.html

Herr Bischof, auf einer Skala von 1 bis 10: Wo sehen Sie die deutsche katholische Kirche bei der Bewaltigung des Missbrauchsskandals?

Etwas uber der Halfte, bei 6, wurde ich sagen. Seit ich zum Missbrauchsbeauftragten der Bischofe bestellt wurde, ist noch kein Jahr vergangen. In dieser kurzen Zeit haben wir die Leitlinien zum Umgang mit Fallen sexuellen Missbrauchs uberarbeitet, wir haben eine Praventionsordnung erlassen, wir haben – als einzige – ein Modell fur die materielle Anerkennung des erlittenen Unrechts, umgangssprachlich „Entschadigung“, vorgelegt.

Was fehlt dann bis zur Stufe 10?

Immer noch sind einzelne Falle nicht befriedigend aufgearbeitet. Wir mussen das, was wir zur verbesserten Pravention zu Papier gebracht haben, jetzt auch konsequent umsetzen. Das braucht eine gewisse Zeit. Und wir werden die Ursachen sexuellen Missbrauchs von Kriminologen und forensischen Psychiatern wissenschaftlich erforschen lassen. Von alledem hangt viel fur unsere Glaubwurdigkeit ab.

Sie sprechen von allerhand Aktivitaten und Ma?nahmen. Was aber ist mit der Tiefenbohrung in die kirchliche Stimmungslage? Nicht wenige Bischofe sagen, nach all der medialen Hysterie um das Thema Missbrauch musse jetzt endlich mal wieder Ruhe einkehren.

Niemand von uns Bischofen will es sich bequem machen, und keiner von uns Bischofen spricht von einer „Kampagne“ in dem Sinn, als ob wir ohne jeden Grund in die Kritik geraten waren. Der Ruf nach etwas mehr Ruhe druckt – so glaube ich – eher eine Verletztheit aus uber bestimmte Formen der Berichterstattung. Zur umfassenden Aufarbeitung gehort der Blick in die jungere Kirchengeschichte: Wir mussen uns dem Thema Gewalt insgesamt stellen. Dass sexuelle Gewalt und andere Gewalt in der offentlichen Debatte oftmals intuitiv zusammengebracht worden sind, zeigt mir: Das Zusammenleben in Kirche und Gesellschaft war auf unheilvolle Weise von Formen der Gewalt durchzogen – viel mehr, als das heute der Fall ist.

Wie ist der Stand bei der Telefon-Hotline fur Missbrauchsopfer?

Unsere Beraterinnen und Berater haben seit Einrichtung der Hotline in der Karwoche 2010 bis Ende vergangener Woche 4500 Beratungsgesprache gefuhrt, im Durchschnitt sind es heute noch 80 bis 90 Gesprache pro Woche.

Melden sich noch neue Opfer?

Fur das Bistum Trier kann ich sagen, ja, das kommt vereinzelt immer noch vor. Allerdings geht es da nicht um aktuelle Vergehen, sondern um langer zuruck liegende Vorkommnisse, meist um ein – im weiteren Sinne - ubergriffiges Verhalten von Priestern.

Hei?t das als Faustregel fur 2011: Wer missbraucht worden ist, der hat sich inzwischen gemeldet?

Damit ware ich sehr vorsichtig. Es kann gut sein, dass es Opfer gibt, die immer noch nicht den Mut hatten, sich zu offenbaren. Darum mussen wir uns in der Kirche die Sensibilitat fur das Thema bewahren, die wir uns inzwischen angeeignet haben. Die Opfer sollen die Gewissheit haben, dass sie in der Kirche auch kunftig ein offenes Ohr finden.

Welche Bedeutung hat fur Sie der Runde Tisch zum Thema Missbrauch in Berlin?

Ich habe – mit einer Ausnahme – bisher an allen Sitzungen teilgenommen. Der Runde Tisch ist ein wichtiges Element sowohl in der Aufarbeitung als auch in der Pravention. Und auch bei der materiellen Anerkennung ist es das Ziel, eine Losung im Verbund mit anderen Institutionen zu erreichen.

An die Sie selbst nach eigenem Bekunden gar nicht mehr glauben.

Es wird schwierig. Das stimmt. Wir wollen uns aber nicht vorwerfen lassen, wir versteckten uns hinter dem Runden Tisch. Deshalb haben wir Bischofe in Absprache mit den Ordensoberen unser Vorgehen festgelegt. Das werden wir in der ersten Marzhalfte verbindlich prasentieren, wollen das zuvor aber noch einmal mit einer Arbeitsgruppe des Runden Tischs absprechen.

Verbindlich hei?t: beziffert?

Selbstverstandlich. Die Summen sind beschlossen und in unser Modell eingetragen. Es geht jetzt noch um die genauen Modalitaten.

Und um welche Summen?

Die Summen werden wir im Marz nennen, wenn wir unser weiteres Vorgehen insgesamt vorstellen werden.

Der Jesuiten-Orden hat einen Betrag von 5000 Euro fur jedes Opfer aufgerufen. Der Runde Tisch „Heimkinder“ hat sich auf einen Fonds von 120 Millionen Euro verstandigt. Das sind im Durchschnitt bis zu 4000 Euro pro Opfer. Bewegen Sie sich in diesem Korridor?

Damit sind Orientierungen gegeben. Daruber hinaus sage ich heute nur: Eine Fondslosung wie bei der Heimkinderthematik schwebt uns nicht vor.

Diese „Orientierung“ liegt weit unter dem, was viele Opfer erwarten. Jesuitenpater Klaus Mertes hat einmal gesagt, eine Entschadigung musse schmerzhaft sein fur denjenigen, der sie leistet. Tun ein paar tausend Euro pro Opfer der Kirche weh?

Zunachst einmal: Ich kann der Logik „je schmerzhafter die Zahlungen fur die Kirche sind, umso verdienstvoller ist es fur die Kirche“ nicht folgen. Denn ich frage mich: Wen schmerzen denn die Zahlungen, die die Institution Kirche leistet, wenn sie sozusagen fur die Tater einspringt? Am Ende doch nicht den Tater oder auch nicht den Bischof, sondern die kirchliche Gemeinschaft. Selbst wenn das Geld nicht aus Kirchensteuermitteln kommt, wird es doch aus kirchlichem Vermogen genommen und fehlt damit an anderer Stelle. Insofern gilt es zu schauen: In welcher Hohe ist eine Zahlung verantwortungsvoll?

Die Opfer werden diese Frage so nicht stellen.

Naturlich habe ich Verstandnis dafur, wenn sie sich Zahlungen in anderer Gro?enerwartung erwarten, weil sie das ihnen zugefugte Leid in eine unmittelbare Verbindung zur Hohe des Betrags setzen. Es gibt aber keine finanzielle „Entschadigung“, die dem Leid der Opfer gerecht wurde. Es kann sich – unabhangig von der Hohe der Summe – immer nur um eine Geste der Anerkennung des erlittenen Unrechts handeln.

In den USA sind Bistumer uber dieser Frage pleite gegangen.

Das liegt an der amerikanischen Rechtsprechung. Wir reden hier bei uns von freiwilligen, nicht einklagbaren materiellen Leistungen. Wie gesagt kann Geld ja letztlich nur ein Hilfsmittel sein; eine fassbare Geste, mit der wir den Worten der Besturzung auch Taten folgen lassen wollen. Ob das wirklich dazu fuhrt, dass die Opfer Frieden finden – das ist keineswegs garantiert. Auch deshalb wollen wir uns nicht auf dieses eine Element materieller Anerkennung begrenzen. Bestmogliche Hilfe fur die Opfer hei?t fur uns auch: Wir ubernehmen Therapiekosten, wir sehen einen Praventionsfonds vor, und wir schaffen eine Hartefallregelung fur besonders schwer betroffene Opfer.

Wie steht es mit der Mitschuld der Institution Kirche?

Ich habe es schon angedeutet: Ich warne davor, die Verantwortung vom einzelnen Tater vorschnell auf die Institution abzuschieben. Andererseits verstehe ich die Erwartung der Offentlichkeit, dass die Kirche sich auch als Institution zu ihrer Verantwortung bekennt. Wir Bischofe wollen darum zur Eroffnung unserer Vollversammlung im Fruhjahr in einem Bu?akt ein Zeichen der Umkehr, der Besinnung und des Willens zur Erneuerung setzen.

So dass Papst Benedikt XVI. bei seinem Heimatbesuch im Spatsommer eine fein herausgeputzte Ortskirche vorfindet?

Es geht nicht darum, dass sich die Kirche „fein herausgeputzt“ prasentiert. Der Papst hat ja bei einigen seiner letzten Auslandsbesuche selbst deutliche Zeichen gesetzt, etwa wenn er sich mit Opfern sexuellen Missbrauchs getroffen hat und starke Worte gefunden hat. Ich fande es allerdings auch unangemessen und bedauerlich, wenn der Papstbesuch vom Thema Missbrauch dominiert wurde. Die katholische Kirche ist doch mehr als das!

Es sieht aber so aus, als wollten die Bischofe vor dem Papstbesuch unangenehme Debatten meiden. Uber verheiratete Priester und eine Lockerung des Zolibats zum Beispiel, wie es katholische CDU-Politiker fordern, mochten Sie jedenfalls zur Zeit nicht sprechen.

Falsch! Wir haben mit dem Zentralkomitee der deutschen Katholiken einen Dialogprozess verabredet, der aber strukturiert in verschiedenen Etappen ablaufen soll. Da hat es keinen Sinn, bestimmte Themen einfach so in den Raum zu werfen, noch bevor wir uns uber den Weg des Dialogs verstandigt haben. Das Thema selbst – also eine Teiloffnung des Priesteramts fur verheiratete Manner, so genannte „viri probati“ – soll nicht au?en vor gehalten werden. Daruber muss man sprechen durfen.

Aber mit fest stehendem – namlich ablehnendem – Ausgang?

Wir leben in Deutschland nicht auf einer Insel und konnen so weit reichende Schritte sicher nicht im Alleingang tun. Zumal wir hinsichtlich der Zahl von Priestern im weltkirchlichen Vergleich nicht einmal ein besonderes Notstandsgebiet sind. Im Ubrigen glaube ich, dass die Zukunft der Kirche und die Verlebendigung des Glaubens nicht davon abhangen, ob Priester heiraten durfen. Aber diskutieren und streiten darf man daruber naturlich.

Zumindest hat der heutige Papst zusammen mit anderen Theologen in den 70er Jahren vehement dafur geworben. Der Zolibat – so argumentierte Joseph Ratzinger damals – fuhre zu einer Art Negativ-Auslese beim Priesternachwuchs.

Eine Negativ-Auslese ware in der Tat das Schlimmste, was uns passieren kann. Und richtig ist auch, dass sich die Nachwuchs-Situation seit den 70er Jahren dramatisch verschlechtert hat. Trotzdem glaube ich, dass der fruhere Pariser Kardinal Lustiger Recht hat, wenn er sagt: Das Christentum in Europa steckt noch in den Kinderschuhen, seine gro?e Zeit liegt noch vor uns.

Pfeifen im Walde.

Langsam! Es ist doch unbestreitbar, dass der Christ heute seinen Glauben so frei leben kann wie nie zuvor in der abendlandischen Geschichte. Es gibt kein Milieu mehr, das ihn in seiner Glaubenspraxis sanktioniert, aber auch kein metaphysisches Szenario mit Hollendrohungen fur den, der nicht glauben will. Die Herausforderung liegt also darin, den Glauben als echte Bereicherung des Lebens zu vermitteln. Mit dem Risiko, dass die Menschen fur sich zu einem anderen Schluss kommen und sich abwenden.

Von bis zu 250.000 Austritten aus der katholischen Kirche gehen Experten fur 2010 aus.

Wegen des Missbrauchsskandals wird das ein bitteres „Rekordjahr“ werden, ja. So viel ist schon abzusehen. Das zeigt, wie dringlich es ist, Glaubwurdigkeit zuruckzugewinnen. Die Kirchenaustritte machen uns aber auch bewusst: Der Glaube ist eine Sache der personlichen Freiheit.

 
 

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