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  Gutachterin Legt Finger in Wunden Der Kirche

The Stern
December 4, 2010

http://www.stern.de/panorama/vertuschung-von-missbrauchsfaellen-gutachterin-legt-finger-in-wunden-der-kirche-1630802.html

Schonungslos legt Gutachterin Marion Westpfahl den Finger in die Wunden der Kirche. Sie sollte im Erzbistum Munchen und Freising die Missbrauchsfalle in den kirchlichen Reihen seit 1945 untersuchen. Und ihr Urteil ist vernichtend: Sie spricht von systematischer Vertuschung durch Kirchenmitarbeiter, falsch verstandenem "bruderlichen Miteinander" und volliger Missachtung der Opfer.

Westpfahl gilt als eine Frau, die kein Blatt vor den Mund nimmt. Und so bekommt auch Papst Benedikt XVI. sein Fett weg, der 1977 bis 1982 Erzbischof von Munchen und Freising war. Die Feststellungen zur katastrophalen Aktenpflege im Ordinariat galten auch fur Joseph Ratzingers Munchner Amtszeit, sagt die fruhere Staatsanwaltin und Richterin. Aber sie habe nur ein einziges Dokument gefunden, in dem Ratzinger selbst mit einem Missbrauchsfall befasst war.

Doch dann sind da wieder die Lucken in den Akten. Denn naturlich stellt sich die Frage, ob Ratzinger den Fall damals auch bei der Staatsanwaltschaft zur Anzeige bringen lie?. Ihres Wissens habe es keine Strafanzeige gegeben, aber das sei ahnlich wie in anderen Fallen nicht klar aus den Akten ersichtlich gewesen, sagt Westpfahl.

Und dann gibt es geradezu eine Generalabsolution der Gutachterin fur den damaligen Erzbischof Ratzinger: Nach ihren Erkenntnissen seien fur einen korrekten Umgang mit bekanntgewordenen Sexualdelikten in den eigenen Reihen die Generalvikare von entscheidender Bedeutung und weniger die Erzbischofe, sagt Westpfahl.

Neben der Rechtsanwaltin sitzt der Munchner Erzbischof und Kardinal Reinhard Marx, ein Befurworter einer ruckhaltlosen Aufklarung. "Was wir tun, sind wir den Menschen schuldig, die zu Opfern wurden", sagt er. Sein Ordinariat hatte die Rechtsanwaltin Ende April mit dem unabhangigen Gutachten betraut.

Westpfahl spricht von einem "unbedingten Aufklarungswillen" des Ordinariats, als sie am Freitag in Munchen die zentralen Ergebnisse ihrer Untersuchung vorstellt. Alle Quellen und Akten seien ihr zuganglich gewesen. Das Ordinariat habe ihr bei ihren Nachforschungen vollig freie Hand gelassen und keinerlei Auflagen erteilt, sagt die geburtige Frankfurterin. Und fugt selbstbewusst hinzu: "Etwas anderes hatte ich mir auch nicht gefallen lassen."

Immer wieder hatten Kirchenmitarbeiter in den vergangenen Jahrzehnten Akten vernichtet, damit es blo? nicht zu einem Skandal komme, berichtet Westpfahl. Und wenn Pfarrer aus anderen Diozesen nach Munchen wechselten, fehlten in den Personalakten meistens die Grunde fur die Veranderung - es gab dort also auch keine Hinweise, ob die Betroffenen sexuell auffallig geworden waren. Zum Teil waren Akten auch in Privatwohnungen gebracht worden. Viele Vorgange seien deshalb nicht mehr oder nur schlecht nachvollziehbar, betont die Gutachterin. Dementsprechend musse man mit einer hohen Dunkelziffer rechnen.

Nach ihren Untersuchungen finden sich fur die Zeit von 1945 bis 2009 in 365 Akten Hinweise, "dass ein wie immer geartetes Missbrauchsgeschehen stattgefunden hat". Zu strafrechtlichen Verurteilungen sei es jedoch nur selten gekommen. Den Opfern sei damit doppeltes Leid geschehen: Sie hatten nicht nur unter den Taten gelitten, sondern hatten auch ganz allein versuchen mussen, damit zurechtzukommen. "Kinder sind in ihrem Leid kaum wahrgenommen worden." Auch Hinweise auf korperliche Misshandlungen fand die Gutachterin in etlichen Fallen.

Die Tater - nach den Worten von Westpfahl meistens zwischen 45 und 65 Jahre alt - lie?en nach den Akten oft erhebliche Reifedefizite erkennen, neigten zu Wehleidigkeit und Selbstmitleid und hatten oft erhebliche Alkoholprobleme. Als Beispiel nannte die Gutachterin einen 55-jahrigen Gemeindepfarrer - der habe sich einmal schriftlich an das Ordinariat gewandt, weil er nicht damit zurechtkam, "dass sich sein Hei?wasserboiler verabschiedet hat". Durch die Vertuschungen der Sexualdelikte nahm die Kirche laut Gutachterin "sehenden Auges in Kauf", dass es weitere Opfer geben konnte.

Das Erzbistum muss nach Ansicht der Anwaltin nun seine Hausaufgaben machen - mit sorgfaltiger Aktenfuhrung, besserer Priesterausbildung und einer Starkung der kirchlichen Missbrauchsbeauftragten. Diese sollten jahrlich der Offentlichkeit Bericht erstatten, fordert Westpfahl. Marx sagt: "Wir werden uns auf den Weg der Veranderung begeben."

 
 

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