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  Wie Eine Gemeinde Missbraucht Wurde

Spiegel
March 15, 2010

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,683681,00.html

Die Franziskanerkirche in Bad Tolz: "Was ist jetzt los mit Pfarrer H.?"

Die Kirche hat Peter H. suspendiert - jenen padophilen Pfarrer, der einst unter Joseph Ratzinger diskret nach Bayern versetzt wurde. Dass ihr Seelsorger Kinder geschandet hat, ahnten die Menschen in seiner fruheren Gemeinde nicht. Die Geschichte einer schockierenden Offenbarung.

Hamburg - Wolfgang Reichenwallner hatte eine Ahnung, als in der vergangenen Woche die ersten Berichte kamen. Wahrhaben wollte er es nicht.

Sein guter Freund Peter H., seit rund 35 Jahren Pfarrer, soll sich an Jungen vergangen haben? Sie zu sexuellen Handlungen gezwungen haben?

Reichenwallner, 60, graue Haare, Brille, ist ein geburtiger Bayer mit sonorer Stimme. Seit 18 Jahren ist er Burgermeister von Garching an der Alz im oberbayerischen Landkreis Altotting. Mehr als 16 Jahre davon war Peter H. der Pfarrer der Gemeinde mit 8500 Einwohnern. Im Spatsommer 2008 musste er die Pfarrei verlassen. Der offizielle Grund, erinnert sich Reichenwallner: das Rotationsprinzip. Den Bestimmungen der Diozese zufolge soll ein Geistlicher nur zehn, zwolf Jahre am selben Ort Pfarrer sein. Peter H. war damit "lange uberfallig".

Am vergangenen Freitag erfuhr Reichenwallner dann wie andere Garchinger aus dem Lokalfernsehen und der Zeitung, dass ein Pfarrer in Essen mehrfach Kinder sexuell missbraucht hat und dafur vor Jahren verurteilt worden ist. Mit Hilfe des Bistums, das den Fall vertuschte, gelang es jenem Pfarrer, in Bayern unterzutauchen. Dieser Mann, war den Berichten zu entnehmen, habe dann unter anderem mehr als 20 Jahre lang in einer kleinen Gemeinde eine Pfarrei geleitet. "Da hat es kurz geklingelt", sagt Reichenwallner.

Aber sollte es sich tatsachlich um "unseren Pfarrer" von damals handeln? Reichenwallner verwarf den Gedanken. Am Samstag in der Fruh dann ein Anruf. Am Apparat: Peter H. Er habe nicht herumgedruckst, nicht geleugnet, sagt der Burgermeister. Er habe nur gesagt: Wolfgang, von dem in der Zeitung die Rede ist, das bin ich.

Das Gesprach habe vier Minuten gedauert. Er werde sich in der nachsten Zeit nicht mehr melden, habe Peter H. angekundigt.

Der Pfarrer tauchte ab. Mit Ansage.

Wo sich der 62-Jahrige derzeit aufhalt - keiner wei? es. Man will es auch gar nicht wissen. Garching befindet sich im Schockzustand. Einerseits. Andererseits sagen auch viele, was fur ein "guter Pfarrer" Peter H. doch war. Sie schatzen seinen Nachfolger Gunter Eckl. Doch fur viele ist Peter H. "unser Pfarrer" geblieben.

"Er zog die Leute an"

Pfarrer Peter H. ist ein dickleibiger, jovialer Mann, der seine Pfarrei in Garching 21 Jahre lang straff fuhrte. Der eine klare Ansage schatzte, seine Meinung immer deutlich vertrat, gute Ratschlage parat hatte und gleichzeitig Herzenswarme und Gutmutigkeit ausstrahlte. So schildern ihn Gemeindemitglieder.

"Er war ein glanzender Prediger, ein glanzender Rhetoriker, der die Leute anzog", sagt Burgermeister Reichenwallner. "Er hat immer Themen aus dem taglichen Leben zur Diskussion gestellt, sich kritisch mit der Bibel auseinandergesetzt." In kurzester Zeit habe er sich einen hohen Bekanntheitsgrad und einen noch hoheren Beliebtheitsgrad "erarbeitet".

Und nun das: Peter H. ist ein verurteilter Sexualstraftater, der mehrfach Jungen sexuell missbraucht hat. 1979 zwang er den elfjahrigen Wilfried F. nach einer Jugendfreizeit in der Eifel in seinem Pfarrhaus in Essen zum Oralsex. Nach Informationen der "Suddeutschen Zeitung" soll er den Jungen zuvor mit Alkohol gefugig gemacht haben. Die katholische Kirche hat mittlerweile den Missbrauchsfall bestatigt und "schwere Fehler" zugegeben. Das Bistum Essen habe 1979 das Munchner Erzbistum gebeten, Peter H. - einen geburtigen Gelsenkirchener, damals noch Kaplan - wegen der sexuellen Ubergriffe aufzunehmen. Der Ordinariatsrat schickte Peter H. zur Psychotherapie nach Munchen.

Eine ungeheure Dimension bekommt dieser Fall, weil dem Rat damals auch Joseph Ratzinger angehorte. Der heutige Papst war Erzbischof von Munchen-Freising, als Pfarrer H. 1980 in sein Bistum kam. Als der Fall in der vergangenen Woche bekanntwurde, war es das erste Mal, dass der Name Joseph Ratzinger in den Akten eines Missbrauchsfalls auftauchte. Die Kirche reagierte alarmiert. Federico Lombardi, Pressesprecher Papst Benedikts XVI., sagte in einem Beitrag fur Radio Vatikan, dass Ratzinger nichts mit der damaligen Entscheidung zu tun gehabt habe. An diesem Montag sagte der Chef der papstlichen Akademie fur das Leben, Erzbischof Rino Fisichella, dem "Corriere della Sera": "Den Papst und die gesamte Kirche in die Missbrauchsskandale hineinziehen zu wollen, ist ein Zeichen von Gewalt und Barbarei."

Wer wusste von H.s padophiler Vorbelastung?

Der Fall Peter H. zeigt allerdings, wie verschwiegen die Kirche lange mit Missbrauchsfallen umgegangen ist. Wohnen durfte Peter H. nach seiner Strafversetzung in Munchen in einem Pfarrhaus. Er arbeitete dort als Seelsorger und spater in einer Grafinger Pfarrei - wo er sich von 1982 bis 1985 erneut an Minderjahrigen verging.

Eine Weggefahrtin H.s erinnert sich, wie er bei Wochenendfreizeiten nicht in den Herbergen ubernachtete, sondern sich am Abend von Jugendlichen nach Hause fahren lie?, weil er selbst keinen Fuhrerschein besa?. Suchte er Kontakt zu den jungen Leuten? Oder war das Ubernachten zu Hause Teil seiner Auflage?

Im Juni 1986 wurde H. vom Amtsgericht Ebersberg zu 18 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewahrung und 4000 Mark Strafe verurteilt. Nach dem Prozess arbeitete Peter H. von November 1986 bis Oktober 1987 als Kurat in einem Seniorenheim, danach kam er als Seelsorger nach Garching an der Alz - und blieb fur 21 Jahre.

Wer wusste von H.s padophiler Vorbelastung? War der Ordinariatsrat, dem 1986 Kardinal Friedrich Wetter vorstand, uber den Fall Peter H. informiert? Wer wurde nach dem Urteil ins Bild gesetzt? Wurden die Auflagen - dass Peter H. nicht mehr mit Kindern und Jugendlichen zusammenarbeiten darf - kontrolliert? Wenn ja, von wem? Warum wurde er erneut als Gemeindepfarrer eingesetzt und durfte erneut mit Kindern und Jugendlichen arbeiten?

Fragen, die gro?teils ohne Antwort sind - und die sich auch Christian Weisner von der Initiative "Wir sind Kirche" stellt. Er selbst lernte Peter H. als "sehr freundlichen, sehr beliebten Pfarrer kennen, der auf Menschen zugehen konnte". Aber "offensichtlich konnte er nicht immer die Distanz einhalten, wenn sie notig war".

"Das kam fur uns aus heiterem Himmel"

Ein Opfer von Peter H., Wilfried F., machte nach Informationen der "Suddeutschen Zeitung" seinen Peiniger schlie?lich in Bayern ausfindig und schickte ihm anonyme E-Mails. Es wurde schlie?lich ein Ermittlungsverfahren eingeleitet. Im Februar 2008 erfuhr der Munchner Erzbischof Reinhard Marx von dem Fall und lie? ein forensisch-psychiatrisches Gutachten uber den Pfarrer erstellen. Demnach wurde ihm strikt untersagt, Kinder-, Jugend- und Ministrantenarbeit auszuuben. Er wurde aus Garching nach Bad Tolz versetzt.

Den "beliebten Pfarrer" gehen lassen zu mussen, war ein Schock fur die kleine Gemeinde zwischen Chiemsee und Waginger See. "Das kam fur uns aus heiterem Himmel. Keiner ahnte, dass die Versetzung mit seiner Vergangenheit zusammenhangt", sagt Burgermeister Reichenwallner.

In einer Mitteilung des Pfarrverbands Garching-Engelsberg wurde Peter H. als "Pfarrer zum Anfassen" gelobt. Der Abschied im September 2008 war in der Gemeinde von Wehmut gepragt - Burgermeister Reichenwallner erinnert sich an eine "melancholische Veranstaltung". Eine Garchingerin sagt, sie habe weinen mussen damals. Sie war nicht die einzige.

"In Bayern sind die Kirche und die Gemeinde noch eng miteinander verwoben", sagt Reichenwallner. Auch daher ruhrt das enge freundschaftliche Verhaltnis zwischen Burgermeister und Pfarrer.

Eklat im Sonntagsgottesdienst

In Bad Tolz war Peter H. seit Oktober 2008 Kur- und Tourismus-Seelsorger. Als Vertretung ubernahm er jedoch auch Jugendgottesdienste. Der Leiter der Pfarrei, Rupert Frania, wusste - wie so viele andere zuvor - nichts von der Vorgeschichte des neuen Pfarrers.

In seiner Predigt am Sonntag in der Franziskanerkirche erwahnte Frania das Gleichnis vom verlorenen Sohn, als es zum Eklat kam. Ein junger Mann sprang auf und schrie: "Was ist jetzt los mit Pfarrer H.?"

Peter H. sollte den Mann und dessen Verlobte in wenigen Wochen trauen. Vor der Kirche tummelten sich Reporter - darunter auch Journalisten der "New York Times" und der italienischen Zeitung "La Stampa". Sie alle wollen recherchieren, inwieweit der Papst in den Fall H. involviert ist.

Das Bistum hat keine Hinweise darauf, dass Peter H. in Garching noch einmal ruckfallig wurde. Fur die Zeit in Bad Tolz soll eine eidesstattliche Versicherung des Pfarrers vorliegen, dass er sich an niemandem vergangen hat. Wenn das stimmt, liegen die letzten Taten des Peter H. 25 Jahre zuruck.

Reichenwallner nimmt ihn in Schutz: "Jeden Tag tauchen neue Verfehlungen auf, warum wird jetzt ausgerechnet dieser Fall so gro? gespielt?", fragt der Burgermeister. "Er ist rechtskraftig verurteilt und hat sich seither soweit bekannt und von der Diozese bestatigt nichts mehr zu Schulden kommen lassen - und eine gute Arbeit in unserem Pfarrverband geleistet." Auch Peter H. habe ihn am Samstag wahrend des Telefonats gefragt: Warum ausgerechnet ich?

Selbst Reichenwallner sagt allerdings: "Der Fall war ein Risiko. Wir haben Gluck gehabt, dass er sich rehabilitiert hat."

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Das Erzbistum Munchen hat Peter H. an diesem Montag suspendiert. Er habe sich "nachweislich nicht an die Auflagen gehalten", lautete die Begrundung - eine Anspielung darauf, dass er wieder Jugendgottesdienste geleistet hatte.

Au?erdem trat der Dienst- und Fachvorgesetzte des Priesters zuruck, Pralat Josef Obermaier. Als Leiter des Seelsorgereferats der Erzdiozese ubernehme er "damit die Verantwortung fur gravierende Fehler in der Wahrnehmung seiner Dienstaufsicht".

Die katholische Kirche versucht jetzt, mit dem Fall Peter H. Schluss zu machen.

[summary]

The church has suspended Peter H., the pedophile priest who once under Joseph Ratzinger was discreetly transferred to Bavaria. The story was a shocking revelation to people in his parish.

Wolfgang Reichenwallner had a clue in the past week but did not want to admit it. Reichenwallner, 60, gray hair, glasses, is a native of Bavaria. For 18 years he has been mayor of Garching an der Alz in Upper Bavaria. Peter H. for more than 16 years was pastor in the town of 8,500 residents. Peter H. had to leave the parish in late summer 2008. The official reason, remembered Reichenwallner, was the principle of rotation. The diocese kept a priest in a parish only 10 or 12 years so a transfer for Peter H. was long overdue.

Reichenwallner on Friday learned from local TV and the newspaper that a pastor in Essen had repeatedly sexually abused children and was sentenced several years ago. With help of the diocese, which covered-up the case, the pastor was able to submerge in Bavaria. He wondered if his friend was the pastor but he dismissed the idea. Then he got a telephone call on Saturday morning from Peter H. He did not deny anything, said the mayor. The priest merely said he was the priest who was mentioned in the newspaper. The conversation lasted four minutes.

No one knows where the 62-year-old priest currently resides. Garching is in a state of shock. Some say he was a good pastor. They appreciate his successor, Gunter Eckl. But for many, Peter H. remained "our father."

Rev. Peter H. is a stout jovial man who led the parish in Garching for years. He gave good advice and radiated warmth and good nature, according to church members. He was a brilliant preacher and orator who attracted people, the mayor said. He used themes from daily life, he added.

 
 

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